Krankheit während des Urlaubs kürzt nicht den Urlaubsanspruch
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 21.06.2012, C-78/11
Überschneiden sich vorübergehende Krankheitszeiten mit dem bezahlten Jahresurlaub, so sind Urlaubstage die mit Krankheitstagen zusammenfallen später zu gewähren. Der Jahresurlaub dient der Erholung, soll Entspannung und Freizeit ermöglichen. Krankheitsbedingter Urlaub von der Arbeit wird gewährt, um von einer Krankheit zu genesen und wieder arbeitsfähig zu werden. Der Zweck der krankheitsbedingten Abwesenheit ist ein anderer als der bezahlte Jahresurlaub.
Das Tribunal Supremo, der Oberste Gerichtshof in Madrid, stellte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen, um die Frage zu klären, ob eine Abweichung vom Artikel 7 der europäischen Richtlinie 2003/88 möglich ist.
FASGA u. a. spanische Gewerkschaftsvertreter starteten ein Verfahren zur Beilegung eines kollektivrechtlichen Streits. Im Verfahren sollte festgestellt werden, dass die Arbeitnehmer, die der Kollektivvereinbarung für Kaufhäuser 2009–2010 unterliegen, auch dann ein Recht auf Inanspruchnahme ihres bezahlten Jahresurlaubs haben, wenn er mit Fehlzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt.
Dem Europäischen Gerichtshof wurde konkret folgende Frage gestellt:
Steht Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer Auslegung der nationalen Regelung entgegen, nach der es nicht möglich ist, den Urlaubszeitraum zu unterbrechen, um zu einer späteren Zeit den gesamten – oder verbleibenden – Urlaub in Anspruch zu nehmen, wenn während seiner Inanspruchnahme unvermutet eine Arbeitsunfähigkeit eintritt?
Die Richtlinie 2003/88/EG enthält Bestimmungen zum Jahresurlaub von Beschäftigten. Der Artikel 7 bestimmt, dass jeder Arbeitnehmer in der Europäischen Union mindestens vier Wochen bezahlten Jahresurlaub erhält. Der bezahlte Mindesturlaub darf, mit Ausnahme bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses, nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.
Der Anspruch der Arbeitnehmer auf Jahresurlaub ist ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union, von dem nicht abgewichen werden darf.
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Diesem Artikel wird von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt. (Urteil KHS, Randnr. 37, und Urteil vom 3. Mai 2012, Neidel, C-337/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 40).
Der EuGH stellt fest, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub es dem Arbeitnehmer ermöglichen soll, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Insoweit weicht dieser Zweck vom Zweck des Anspruchs auf Krankheitsurlaub ab. Letzterer wird dem Arbeitnehmer gewährt, damit er von einer Krankheit, die eine Arbeitsunfähigkeit verursacht, genesen kann (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Vicente Pereda, C-277/08, Slg. 2009, I-8405, Randnr. 21).
So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich vor allem aus dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ergibt, dass ein Arbeitnehmer, der sich während eines im Voraus festgelegten Jahresurlaubs im Krankheitsurlaub befindet, berechtigt ist, den Jahresurlaub auf seinen Antrag zu einer anderen als der mit dem Krankheitsurlaub zusammenfallenden Zeit zu nehmen, damit er ihn tatsächlich in Anspruch nehmen kann.
Es spielt keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt die Krankheit eintritt. Solange es Überschneidungen von Krankheit und bezahltem Jahresurlaub gibt, zählen zunächst die Krankheitstage. Der Arbeitnehmer ist berechtigt, den Teil seines bezahlten Jahresurlaubs, der mit einem Krankheitsurlaub zusammenfällt, zu einer späteren Zeit zu nehmen, unabhängig davon, wann die Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist.
Der EuGH erklärt:
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin gehend auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass ein Arbeitnehmer, der während des bezahlten Jahresurlaubs arbeitsunfähig wird, nicht berechtigt ist, den Jahresurlaub, der mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfällt, später in Anspruch zu nehmen.