Rechtfertigung einer außerordentlichen Kündigung
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Aktenzeichen 5 Sa 122/13, Urteil vom 22.Oktober 2013
Wird eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen, ist im Einzelfall die Rechtfertigung der Kündigung zu prüfen. Eine Kündigung ohne Abmahnung muss einer Interessenabwägung standhalten. Es ist zu prüfen, ob der Arbeitgeberin die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Zeitpunkt der ordentlichen Kündigung zumutbar ist.
Bei einem Straßenbahnfahrer wurde kurz nach Dienstantritt ein Verstoß gegen das absolute Alkoholverbot festgestellt. Bei den durchgeführten Alkoholtests wurden zu Beginn 0,23 Promille Atemalkohol ermittelt. Bluttests wurden nicht durchgeführt.
In einer entsprechenden Betriebsvereinbarung wurden Mitarbeiter darauf hingewiesen, dass bereits kleinste Mengen Alkohol das Fahrvermögen deutlich beeinträchtigen. Eindeutig ist auch formuliert, dass Fahrbedienstete, die von Alkohol oder anderen berauschenden Mittel beeinträchtigt sind, vom Fahrdienst ausgeschlossen werden.
Die Sicherheit von Fahrgästen und Mitarbeitern stehe im Vordergrund. Gleichzeitig soll das allgemeine Erscheinungsbild des Unternehmens und der Gleichbehandlungsgrundsatz aller Mitarbeiter geschützt werden.
Noch am gleichen Tage wurde der Straßenbahnfahrer vom Dienst suspendiert. Das Personalgespräch am folgenden Tag fand unter Beteiligung von Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Betriebsleiter Straßenbahn und dem Betriebsratsvorsitzenden statt. Der Straßenbahnfahrer leugnete in diesem Gespräch sowie im gesamten Prozess, am Vorabend oder am gleichen Tag Alkohol zu sich genommen zu haben. Nach der Anhörung beschloss die Arbeitgeberin außerordentlich, hilfsweise ordentlich zu kündigen. Wenige Tage später widersprach der Betriebsrat der außerordentlichen sowie der hilfsweisen ordentlichen Kündigung. Nach Erhalt des Widerspruchsschreibens sprach die Arbeitgeberin eine außerordentliche fristlose, hilfsweise eine ordentliche, fristgemäße Kündigung aus.
Beim Straßenbahnfahrer wurde bereits einmal, vier Jahre vor dem aktuellen Ereignis, ein Verstoß gegen das Alkoholverbot festgestellt. Die ermittelten 0,1 bis 0,3 Promille führten damals zu einer Abmahnung, die zwei Jahre und vier Monate später aus der Personalakte getilgt wurde.
Der Straßenbahnfahrer klagte gegen die Kündigungen und verlangte seine Weiterbeschäftigung bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses.
Das Arbeitsgericht Schwerin entsprach der Klage bezüglich der außerordentlichen Kündigung sowie dem Verlangen nach Weiterbeschäftigung bis zum Ende des Kündigungsschutzprozesses, wies die Klage gegen die hilfsweise ordentliche Kündigung jedoch ab.
Vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) verfolgt der Straßenbahnfahrer das Ziel, auch die hilfsweise ordentliche Kündigung als unzulässig erklären zu lassen, da dieser die soziale Rechtfertigung fehle.
Der Straßenbahnfahrer bestritt, vor dem Dienstantritt Alkohol zu sich genommen zu haben. Er könne sich die Messwerte nicht erklären. Selbst bei tatsächlichem Alkoholkonsum hätte die Arbeitgeberin zunächst eine Abmahnung aussprechen müssen. Die Interessenabwägung sei fehlerhaft. Es müsse seine beinahe 30-jährige Betriebszugehörigkeit berücksichtigt werden sowie seine Unterhaltsverpflichtung für seinen volljährigen, behinderten Sohn. Er erwirtschafte das Familieneinkommen im Wesentlichen alleine.
Die Arbeitgeberin verfolgt in der Revision die Abweisung der Klage auch bezüglich der außerordentlichen Kündigung. Die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses sei eine notwendige Folge des Verstoßes gegen das absolute Alkoholverbot. Der Straßenbahnfahrer habe eine Straßenbahn unter Alkoholeinfluss gelenkt.
Wegen der unglaubhaften Erklärungsversuche des Straßenbahnfahrers sei es nicht zumutbar, mit ihm bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zusammenzuarbeiten. Der Straßenbahnfahrer habe sich auch offensichtlich die vier Jahre früher erteilte Abmahnung nicht zu Herzen genommen. Bei einer Weiterbeschäftigung müsse davon ausgegangen werden, dass es zu weiteren Verstößen komme.
Die soziale Lage des Straßenbahnfahrers könne diese Entscheidung nicht ändern, da die Sicherheit der Fahrgäste ein überragendes Gut sei, hinter dem die soziale Schutzbedürftigkeit des Straßenbahnfahrers zurücktrete.
Das Landesarbeitsgericht hält die Berufung der Arbeitgeberin für nicht begründet. Nach der Interessenabwägung sei es der Arbeitgeberin zumutbar, den Straßenbahnfahrer weiter zu beschäftigen.
Der mit Messwerten belegte Alkoholkonsum wird vom Gericht als wahr angesehen. Daraus folge eine Pflichtvergessenheit des Straßenbahnfahrers, die allein für sich einen wichtigen Grund für eine Kündigung darstelle.
Bei näherer Prüfung erweise sich der Verstoß gegen das absolute Alkoholverbot als minderschwerer Fall. Wegen des absinkenden Alkoholpegels während der Messreihe könne ausgeschlossen werden, dass der Straßenbahnfahrer während des Dienstes Alkohol zu sich genommen habe, sondern vorher. Der Grad der Alkoholisierung sei nicht als besonders schwere Pflichtverletzung anzusehen. Dabei wird berücksichtigt, dass sich bereits geringe Mengen Alkohol im Blut negativ auf die Leistungsfähigkeit eines Straßenbahnfahrers auswirken. Wegen des geringen Alkoholpegels hätte der Straßenbahnfahrer noch im ersten Drittel seiner Schicht die volle Fahrtüchtigkeit wieder erlangt.
Es könne nicht von einem vorsätzlichen Verstoß gegen das Alkoholverbot ausgegangen werden. Ein vorsätzlicher Verstoß gegen das Alkoholverbot sei nicht nachweisbar. Vielmehr sei davon auszugehen, dass sich der Straßenbahnfahrer am Vorabend über den Grad seines Alkoholeinflusses getäuscht habe oder die Abbaumöglichkeiten von Alkohol in seinem Körper falsch eingeschätzt habe.
Aus dem Vorfall, der vier Jahre vorher zu einer Abmahnung führte, könne nicht auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen werden. Es habe sich zwar um eine gleichgelagerte Pflichtverletzung gehandelt, wegen des zeitlichen Abstandes könne jedoch nicht mehr von einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden.
Wegen des Schweigens des Straßenbahnfahrers sei hingegen eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeschlossen. Objektive Fakten sprächen dafür, dass der Straßenbahnfahrer entweder am Vorabend oder am gleichen Tag erhebliche Mengen an Alkohol zu sich genommen habe, da am Mittag noch ein messbarer Restpegel vorhanden war.
Beide möglichen Erklärungen seien aus der Sicht der Arbeitgeberin beunruhigend und sogar verstörend, da man beides als Zeichen für ein deutliches Alkoholproblem des Straßenbahnfahrers ansehen müsse.
Das Schweigen des Straßenbahnfahrers sei ein zusätzliches Indiz. Wenn eine Person tatsächlich nicht mehr frei sei in der Entscheidung, Alkohol zu sich zu nehmen, so sei ein wiederholter Verstoß gegen das Alkoholverbot nicht auszuschließen.
Dennoch scheiterte die Kündigung der Arbeitgeberin im Rahmen der Interessenabwägung. Es sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Verstößen gegen absolute Verbote zu betrachten. Es sei nicht ersichtlich, dass die Sicherheit der Fahrgäste besser geschützt sei, wenn jeder Verstoß gegen das Alkoholverbot zu einer Kündigung führe. Eine solche strenge Handhabung könne im Gegenteil dazu führen, dass Alkoholabhängige sich wegen der drohenden Kündigungsgefahr nicht offenbaren würden. Der Ausspruch einer Abmahnung hätte in diesem Fall genügt.
In keinem der Dokumente, die das Alkoholverbot regeln, seien kündigungsrechtliche Sanktionen im Falle des Verstoßes angedroht. Deshalb könne auf eine Abmahnung nicht verzichtet werden.
Es sei der Arbeitgeberin zuzumuten, den Verdachtsmomenten einer krankhaften Alkoholabhängigkeit bei einem Mitarbeiter mit nahezu 30-jähriger Betriebszugehörigkeit nachzugehen. Bei berechtigten Zweifeln an der gesundheitlichen Eignung des Straßenbahnfahrers könne die Arbeitgeberin entsprechende Nachweise verlangen. Es sei der Arbeitgeberin auch zumutbar, den Straßenbahnfahrer verstärkt auf Alkoholkonsum zu kontrollieren.
Der Straßenbahnfahrer könne von der Arbeitgeberin erwarten, dass sie die bestehenden Verdachtsmomente zunächst vollständig aufklärt, bevor sie sich mit einer auf einem Vorwurf gegründeten Kündigung vom ihm trenne.
Der hilfsweisen ordentlichen Kündigung fehle es nach §1 KschG (Kündigungsschutzgesetz) an sozialer Rechtfertigung.
Somit wurde weder die außerordentliche noch die ordentliche Kündigung wirksam. Das Arbeitsverhältnis wurde durch die Kündigungen nicht beendet.
Eine Revision zu diesem Urteil wurde nicht zugelassen, da die gesetzlichen Bedingungen dafür nicht erfüllt seien.