Konsultationspflicht bei Massenentlassungen
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.02.2016, Aktenzeichen 15 Sa 1953/15
Werden die Bedingungen der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen nicht erfüllt oder werden die Hintergründe der Massenentlassungen nicht ausreichend mitgeteilt, sind die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam. Erst nach abgeschlossenem Konsultationsverfahren können Kündigungen ausgesprochen werden.
Eine Angestellte war in Teilzeit bei einem Dienstleistungsunternehmen in der Passagierabfertigung eines Flughafens beschäftigt. Das Unternehmen Ihrer Arbeitgeberin war Bestandteil einer Unternehmensgruppe, deren Holding als führender Spezialist für Dienstleistungen im Flughafenbereich gilt. Die Unternehmensgruppe erbringt bodennahe Dienstleistungen für Flughäfen und Fluggesellschaften überwiegend mit eigenen Mitarbeitern. Die Arbeitgeberin erbrachte ausschließlich Dienstleistungen im Bereich der Passagierabfertigung. Ihre einzige Auftraggeberin war ein Unternehmen der Unternehmensgruppe. Die Auftraggeberin beschäftige spätestens seit Ende 2013 keine eigenen Arbeitnehmer mehr.
In mehreren Stufen wurden der Arbeitgeberin sämtliche Aufträge gekündigt. Alle Kündigungen stammen vom 22. November 2014. Termin für den Auslauf der letzten Aufträge war der 31.03.2015. Am Tage der Kündigung fand eine Gesellschafterversammlung statt. Die alleinig stimmberechtigte Auftraggeberin der Arbeitgeberin beschloss, den Betrieb der Arbeitgeberin stillzulegen und die dem Betriebszweck dienende Organisation zum 31.03.2015 aufzulösen. Die persönlich haftende Gesellschafterin der Arbeitgeberin war hingegen nicht stimmberechtigt.
Am 20. Januar 2015 fand eine Anhörung des Betriebsrats statt. In einem Schreiben der Geschäftsleitung wurde klargestellt, dass es keine Alternative zur Betriebsschließung und dem Verlust aller Arbeitsplätze im Unternehmen gebe. Es wurde betont, dass das beherrschende Unternehmen genaue Gründe für die Kündigung der Aufträge und die Schließung des Geschäftsbetriebes nicht mitteilte. Stattdessen äußerte die Arbeitgeberin Vermutungen zu hohen Verlusten.
Am 27. Januar 2015 widersprach der Betriebsrat sämtlichen Kündigungen. Es handele sich um eine gesteuerte Verlustsituation. Erzielte Gewinne würden zwar erzielt, aber weder im Unternehmen der Arbeitgeberin noch in der beherrschenden Gesellschaft gehalten. Die marktbeherrschende Stellung der Unternehmensgruppe ermögliche es im Rahmen ihres komplexen Netzwerkes von Leiharbeits- und Tochterfirmen die Aufträge der Fluggesellschaften nach belieben durch Unter- und Unteraufträge dorthin zu verlagern, wo diese gerade als nützlich angesehen werden. Aus Sicht des Betriebsrates sei dieses Vorgehen ein grober Missbrauch gesellschaftsrechtlicher Gestaltungsrechte zur Umgehung des geltenden Kündigungsschutzrechts und Betriebsverfassungsrechts.
Mit Schreiben vom 13. Februar 2015 kündigte die Arbeitgeberin allen Mitarbeitern zum 31.Juli 2015.
An zwei Terminen im September und Oktober 2014 verhandelten die Betriebsparteien über einen Interessenausgleich und in Ansätzen über einen Sozialplan, ohne eine Einigung zu erzielen.
Im November und Dezember 2014 tagte die eingesetzte Einigungsstelle. In der letzten Sitzung der Einigungsstelle erklärte eine Vertreterin des Unternehmens, der Informationsanspruch des Betriebsrats sei erfüllt. Aus diesem Grunde seien die Interessenausgleichsverhandlungen gescheitert.
In einem Schreiben vom 02. Januar 2016 an den Betriebsrat wiederholte der Geschäftsführer die beabsichtigte Betriebsschließung, von der die gesamte Belegschaft von 192 Mitarbeitern betroffen ist. Die Kriterien zur Zahlung von Abfindungen würden sich aus dem Sozialplan ergeben, der aktuell verhandelt würde. Allerdings stehe kein Budget für Abfindungen zur Verfügung.
Der Betriebsrat verwies in einem Schreiben vom 14. Januar darauf, dass in der Einigungsstelle noch beraten würde, und bat von einer Massenentlassungsanzeige Abstand zu nehmen. Die Informationslage reiche nicht aus, um sich über einen Interessenausgleich zu verständigen. Dem Betriebsrat seien bisher keine betriebswirtschaftlich nachvollziehbare Gründe für die Massenentlassung mitgeteilt worden. Da die Arbeitgeberin wirtschaftlich nicht selbständig sei, komme es auf Informationen aus höherer Konzernebene an.
Nachdem einige Kammern des Arbeitsgerichts Berlin eine Verletzung der Massenentlassungsvorschriften nach § 17 KschG (Kündigungsschutzgesetz) festgestellt haben, hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat am 10.Juni 2015 erneut an. Noch vor der angekündigten Stellungnahme des Betriebsrats erstatte die Arbeitgeberin eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit.
Die Angestellte erhob rechtzeitig Klage beim Arbeitsgericht Berlin. Sie argumentierte, den Kündigungen fehle ein betriebsbedingter Grund im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes. Die Kündigungen seien rechtsmissbräuchlich. Die entfallenen Aufträge seien nur innerhalb des Konzerns verlagert worden. Die Betriebsstilllegung stelle nur einen Versuch dar, sich der Belegschaft zu erledigen.
Die Arbeitgeberin habe nie eigene Geschäftstätigkeit entfalten dürfen. Sie konnte nie eine marktgerechte Vergütung erzielen. Wegen des Rechtsmissbrauchs müsse der Kündigungsschutz konzernweit gelten.
Dem Betriebsrat seien nie die tatsächlichen Gründe für die Betriebsstilllegung mitgeteilt worden, lediglich Vermutungen. Eine Massenentlassungsanzeige ohne beigefügte Stellungnahme des Betriebsrats sei unwirksam.
Der Geschäftsführer der Arbeitgeberin sei außerhalb der Einigungsstelle an einen Großteil der Arbeitnehmer herangetreten, ob sie bereit seien, geringer vergütet in einer anderen Firma der Unternehmensgruppe weiter zu arbeiten. Dieses Anliegen hätte offiziell bei der Arbeitgeberin verhandelt werden können. Der Betriebsrat könne deshalb Nachteilsausgleich nach § 113 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) geltend machen. Wegen des Bemühens Entlassungen zu vermeiden, hätte die Agentur für Arbeit zu den Verhandlungen zum Interessenausgleich hinzugezogen werden müssen.
Die Angestellte beantragte feststellen zu lassen, dass das Arbeitsverhältnis durch die fristgerechte Kündigung vom Februar 2015 nicht aufgelöst wurde. Zudem soll festgestellt werden, dass auch die vorsorglich ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung vom Juli 2015 nicht wirksam ist. Hilfsweise wurde die Zahlung eines Nachteilsausgleichs nach § 113 BetrVG beantragt.
Das Arbeitsgericht Berlin hat die Klage abgewiesen. Bereits die erste Kündigung habe das Arbeitsverhältnis wirksam zum 31.07.2015 aufgelöst. Es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass der einzige Auftraggeber, der zugleich Gesellschafter ist, dem Subunternehmen sämtliche Aufträge kündigt und somit die Betriebsstilllegung erzwinge.
Die Angestellte legte gegen das Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg ein. Das Konsultationsverfahren sei ungenügend. Es hätten die tatsächlichen Gründe mitgeteilt werden müssen, die den Entzug sämtlicher Aufträge verursachten. Ohne Offenlegung der Gründe könnte der Betriebsrat keine Alternativen entwickeln. Die Kündigungen seien rechtsmissbräuchlich.
Das LAG Berlin-Brandenburg entschied, die Kündigungen vom Februar und Juli 2015 seien unwirksam. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin wurde abgeändert.
Das Beratungsverfahren nach § 17 Absatz 2 Satz 2 KschG wurde mangelhaft durchgeführt. Arbeitgeberin und Betriebsrat hätten die Möglichkeit zu Beratungen um Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mindern. Wird ein Konsultationsverfahren im Sinne dieser Norm nicht durchgeführt, ist eine Kündigung im Rahmen von Massenentlassungen unwirksam. Die Arbeitgeberin sei verpflichtet, mit dem Betriebsrat über die Entlassungen bzw. Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Einschränkung ernsthaft zu verhandeln bzw. Verhandlungen anzubieten.
Beratungen mit dem Betriebsrat fanden nicht statt. Verhandlungen in der Einigungsstelle nach § 111 Satz 1 BetrVG sind keine Beratungen im Sinne von § 17 Absatz 2 Satz 2 KschG.
Die Einigungsstelle sei ein unparteiischer Dritter. Die von den Parteien benannten Beisitzer seien nicht identisch mit den Betriebsparteien. Das Einigungsstellenverfahren setze gescheiterte Verhandlungen mit dem Betriebsrat voraus und könne deshalb nicht als Beratung mit dem Betriebsrat nach § 17 KschG angesehen werden.
Die Arbeitgeberin hatte in der 4. Einigungsstellensitzung die Verhandlungen über einen Interessenausgleich für gescheitert erklärt. Damit konnte die Einigungsstelle nur noch die Milderung der Folgen behandeln, nicht aber die Vermeidung von Entlassungen. Beratungen konnten somit nicht mehr in vollem Umfang stattfinden.
Das Schreiben der Arbeitgeberin an den Betriebsrat ließ kein Verhandlungsangebot erkennen. Es handelte sich um eine formale Unterrichtung über die geplanten Entlassungen, ohne überhaupt eine Stellungnahme des Betriebsrats einzufordern. Künftige Verhandlungen wurden nur bezüglich einer Transfergesellschaft angesprochen, die nur Folgen von Entlassungen mildern kann. Die Arbeitgeberin habe aber nicht die Betriebsschließung selbst zur Diskussion gestellt.
Das LAG urteilte, die Kündigung vom Februar 2015 sei auch unwirksam, weil die Gründe der geplanten Massenentlassung nicht ausreichend mitgeteilt worden seien. Der Betriebsrat soll in die Lage versetzt werden, ernsthafte Alternativen zur Massenentlassung zu entwickeln. Zu den mitzuteilenden Gründen gehörten auch die Hintergründe der Massenentlassung.
Die Informationspflicht betreffe allein die Arbeitgeberin als juristische Person, unabhängig davon, ob die Entscheidung zur Massenentlassung von einem beherrschenden Unternehmen getroffen wird. Die Arbeitgeberin habe sich nicht um Aufträge am Markt bemüht. Damit der Betriebsrat ernsthafte Alternativen zu den geplanten Entlassungen unterbreiten kann, müsste er informiert werden, warum ein normales unternehmerisches Handeln nicht gewollt ist.
Ohne detaillierte schriftliche Darlegung aller zweckdienlichen Informationen, also auch der tatsächlichen Hintergründe der Kündigung aus Sicht der die Arbeitgeberin beherrschenden Unternehmen könne das Konsultationsverfahren nicht abgeschlossen werden. Somit wäre auch jede weitere Kündigung bei Vorliegen der Voraussetzungen für Massenentlassungen nach § 17 KschG unwirksam. Die Arbeitgeberin könne sich auch nicht damit verteidigen, das beherrschende Unternehmen stelle die erforderlichen Informationen zum Konsultationsverfahren nicht zur Verfügung. Es sei Aufgabe der Arbeitgeberin innerhalb des Konzerns aufzuklären, welche strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidungen zur Einstellung der Aufträge führten.
Das Konsultationsverfahren müsse bei der Arbeitgeberin abgeschlossen sein, bevor Kündigungen ausgesprochen werden dürften.
Die Kündigung vom Juli 2015 sei ebenfalls unwirksam, weil dem Betriebsrat die Hintergründe der geplanten Massenentlassung nicht ausreichend mitgeteilt wurden. Aus den eingereichten Unterlagen
seien die Überlegungen des beherrschenden Unternehmens nicht ersichtlich.