Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24.08.2016, Aktenzeichen 5 AZR 129/16
Die Individualabrede hat Vorrang vor den Regelungen eines schriftlich vorformulierten Arbeitsvertrages.
Eine Wiegemeisterin war von Mai 2008 bis Mai 2014 bei einem Entsorgungs- und Recyclingunternehmen beschäftigt. Zunächst sah ihr Arbeitsvertrag eine regelmäßige Arbeitszeit von 45 Wochenstunden vor. Mehrarbeit sei auf Anordnung zu leisten.
Nachdem die Wiegemeisterin erfuhr, dass ein später eingestellter Wiegemeister zu günstigeren Konditionen beschäftigt wurde, beantragte sie die Übernahme in das Angestelltenverhältnis. Im neu abgeschlossenen Anstellungsvertrag wurde ein leicht reduziertes Monatsgehalt aufgeführt, jedoch ein zusätzliches 13. Monatsgehalt. Für den Jahresverdienst einschließlich eines 13. Monatsgehalts sollte sich somit eine effektive Gehaltserhöhung von 6,6% ergeben, wie die Arbeitgeberin in einem bereits vorab übermittelten Schreiben darlegte. Als Arbeitszeit wurde eine 40-Stunden-Woche im Arbeitsvertrag ausgewiesen.
Die Wiegemeisterin arbeitete nach der Vertragsänderung weiterhin täglich 10,5 Stunden zwischen 6.00 Uhr bis 17.00 Uhr, wovon 30 Minuten als unbezahlte Pausenzeit galten. Über 10,5 Stunden pro Tag hinausgehende Arbeit machte sie als Überstunden geltend und erhielt dafür Freizeitausgleich.
Das Gewerbeamt beanstandete die tägliche Arbeitszeit. Daraufhin reduzierte die Arbeitgeberin ab November 2013 die tägliche Arbeitszeit auf 9,5 Stunden und kürzte das Bruttogehalt anteilig. Die Wiegemeisterin protestierte gegen die Lohnkürzung. Für die Monate November und Dezember 2013 zahlte die Arbeitgeberin die Differenz nach. Ende Februar 2014 kündigte die Arbeitgeberin der Wiegemeisterin aus betriebsbedingten Gründen.
Im Dezember 2014 forderte die Wiegemeisterin vor dem Arbeitsgericht eine zusätzliche Vergütung, für die über die im Arbeitsvertrag bezeichneten 40 Wochenstunden hinausgehende Arbeit von jeweils 12,5 Wochenstunden. Die im Arbeitsvertrag aufgeführten Zeiten (6.00 Uhr bis 17.00 Uhr) seien lediglich die betriebsüblichen Bedienzeiten an der Waage und keine zeitliche Festlegung ihrer Arbeitszeit. Zumindest seien ihr die über die gesetzlich zulässige Wochenarbeitszeit von 48 Stunden hinausgeleisteten Stunden zusätzlich zu vergüten.
Die Arbeitgeberin beantragte Klageabweisung. Mit der Wiegemeisterin war vereinbart, die bisherige Arbeitszeit von 10,5 Stunden beizubehalten. Der neue Bruttojahresverdienst sei als Gegenleistung für eine wöchentliche Arbeitszeit von 52,5 Stunden gezahlt worden. Die Wiegemeisterin habe durch die Änderung des Arbeitsvertrages eine Gehaltserhöhung von 6,2 % erhalten sollen, jedoch keine 33,99%. Die Erwähnung der 40-Stunden-Woche sei durch die Verwendung eines Formulararbeitsvertrages entstanden. Der Schutzzweck von § 3 ArbZG (Arbeitszeitgesetz) gebiete, dass die über das gesetzliche Maß geleistete Arbeitszeit nicht zu vergüten sei. Etwaige Ansprüche der Wiegemeisterin seien jedenfalls verwirkt.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Berufung der Wiegemeisterin zurück. Mit der Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Wiegemeisterin ihr Begehren weiter.
Das BAG entschied, die Klage sei teilweise begründet. Streitgegenstand sei die Vergütung von 12,5 Stunden pro Woche, die unstreitig seit dem geänderten Arbeitsvertrag über eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden hinaus geleistet wurden. Die Wiegemeisterin habe jedoch nur Anspruch auf über 48 Wochenstunden hinausgehend geleistete 4,5 Arbeitsstunden. Diese Stunden seien nicht mit dem vereinbarten Jahresverdienst abgegolten. Die Wiegemeisterin schulde für das vereinbarte Entgelt nur eine Wochenarbeitsleistung von 48 Arbeitsstunden. Die Arbeitgeberin habe die Vergütungsansprüche für wöchentlich geleistete 48 Arbeitsstunden entsprechend § 362 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) erfüllt.
Vor der Unterzeichnung des geänderten Arbeitsvertrages hätten die Vertragsparteien in einer konkludent getroffenen individuellen Vertragsabrede eine wöchentliche Arbeitszeit von 52,5 Arbeitsstunden vereinbart. Die Parteien hätten vor der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages den Umfang der zu erbringenden Arbeitsleistung und die Höhe der dafür geschuldeten Vergütung besprochen und vereinbart. Es habe Einvernehmen bestanden, die bisherige Arbeitszeit bei Übernahme der Wiegemeisterin in ein Angestelltenverhältnis beizubehalten. Die Wiegemeisterin lehnte eine Verlängerung der Pausenzeiten ausdrücklich ab.
Diese Vereinbarung gelte als Individualabrede und habe im Rahmen ihrer Wirksamkeit vor den Regelungen des von der Arbeitgeberin gestellten schriftlichen Arbeitsvertrags Vorrang.
Die Arbeitgeberin legte vor der Vertragsunterzeichnung in einem Schreiben zur Übernahme ins Angestelltenverhältnis die Berechnung der zukünftigen Vergütung offen. Die berechnete effektive Gehaltserhöhung von 6,2% ergebe sich bei einer unveränderten Arbeitsleistung von 10,5 Stunden täglich. In der Berufungsverhandlung habe die Wiegemeisterin ihre Überraschung über die 40 Wochenstunden im Arbeitsvertrag ausgedrückt, welche sich mit den bisherigen Arbeitszeiten nicht vertragen hätte. Dies deckt sich mit der Aussage der Arbeitgeberin, es sei versehentlich ein Formulararbeitsvertrag verwendet worden, der eine 40-Stunden-Woche vorsah. Das Missverhältnis zwischen den verabredeten 52,5 Wochenarbeitsstunden, und 40 Stunden im Arbeitsvertrag, sei der Wiegemeisterin bewusst gewesen.
Die Vertragsparteien hätten vor der Unterzeichnung des schriftlichen Arbeitsvertrages nicht nur Wissenserklärungen über die bisherige Arbeitszeit ausgetauscht. Die Parteien hätten rechtsgeschäftliche Erklärungen zum Umfang der Arbeitsleistung und Höhe der geschuldeten Vergütung abgegeben. Das Verhalten der Vertragsparteien nach Vertragsabschluss sei ein bedeutsames Indiz für die Ermittlung des tatsächlichen Willens. Die Wiegemeisterin legte der Geltendmachung von Überstunden stets eine tägliche Arbeitszeit von 10,5 Stunden zugrunde.
Die Vertragsparteien konnten jedoch nur 48 Wochenarbeitsstunden wirksam vereinbaren. Die Arbeitszeitvereinbarung sei nach § 3 ArbZG (Arbeitszeitgesetz) sowie § 134 BGB in dem Umfang unwirksam, wie sie eine Überschreitung der gesetzlich zulässigen Höchstarbeitszeit vorsieht. Nach § 3 ArbZG dürfe die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten. Sie könne auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden. § 3 ArbZG sei ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB.
Die Arbeitszeitvereinbarung sei aber nach § 134 BGB nur insofern unwirksam, wie sie im Widerspruch zu § 3 ArbZG stehe. Im Rahmen des gesetzlich Zulässigen bleibe eine gegen die gesetzlichen Höchstgrenzen verstoßende Arbeitszeitvereinbarung wirksam. Die Individualabrede habe in ihrer Wirksamkeit Vorrang vor den Regelungen im schriftlichen Formulararbeitsvertrag.
Individuelle Vertragsabreden hätten Vorrang vor Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Sinne von § 305 Absatz 1 BGB und vor in Verbraucherverträgen vorformulierten Einmalbedingungen im Sinne von § 310 Absatz 3 Nr. 2 BGB. Es sei unerheblich, ob es sich um eine für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingung handele oder der Arbeitsvertrag als Verbrauchervertrag zu bewerten sei. In beiden Fällen gehe die Individualabrede der Parteien den Bestimmungen des schriftlichen Arbeitsvertrags vor.
Die Bestimmungen des Arbeitsvertrages wurden durch die Individualabrede verdrängt, soweit sie zu dieser im Widerspruch standen. Es könne zugunsten der Wiegemeisterin unterstellt werden, im Arbeitsvertrag sei wirksam eine 40-Stunden-Woche geregelt. Dennoch gehe die Individualabrede vor, obwohl sie wegen Überschreitung der gesetzlich zulässigen Höchstarbeitszeit teilunwirksam sei.
Die Wiegemeisterin habe nach § 612 Absatz 1 BGB Anspruch auf Vergütung der 4,5 Arbeitsstunden die über 48 Wochenstunden hinaus gehen. Sie schuldete der Arbeitgeberin lediglich eine Arbeitsleistung in gesetzlich zulässigem Umfang. Die über die 48 Stunden hinausgehende Arbeitsleistung wurde von den Parteien nicht erfasst. Nach § 612 Absatz 1 gelte eine Vergütung als stillschweigend vereinbart, wenn die Arbeitsleistung nur gegen eine Vergütung zu erwarten sei.
Der Verstoß gegen § 3ArbZG ziehe nicht den Ausschluss des Vergütungsanspruches nach sich. § 3 solle die Überforderung von Arbeitnehmern vermeiden, untersage aber nicht, die über die gesetzlichen Höchstgrenzen hinaus erbrachten Arbeitsleistungen zu vergüten.
Nach § 612 Absatz 2 stehe der Wiegemeisterin die Vergütung der 4,5 Arbeitsstunden pro Woche zu, die über das gesetzliche Maß hinaus geleistet wurden. Als Basis sei die vereinbarte Vergütung maßgebend.
Der Anspruch der Wiegemeisterin sei nicht verwirkt. Eine Verwirkung komme schon deshalb nicht in Betracht, weil sich aus dem Vorbringen der Arbeitgeberin und dem unstreitigen Sachverhalt keine Tatsachen ergeben, die als unzumutbar gelten müssten, die Ansprüche der Wiegemeisterin zu erfüllen, oder es sei ihr aufgrund sonstiger Umstände unzumutbar, sich auf die Klage einzulassen.
Das BAG stellte abschließend klar, die Wiegemeisterin könne nicht weiter gehend die Vergütung verlangen, die sie über 40 Wochenstunden hinaus gearbeitet hat. Die Parteien hätten eine Vergütung für 48 Wochenstunden vereinbart. Deshalb scheide ein stillschweigender Anspruch nach § 612 Absatz 1 BGB aus.