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Umkleidezeit kann als Arbeitszeit gelten

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.10.2016, Aktenzeichen 5 AZR 168/16

Muss von der Arbeitgeberin vorgeschriebene Arbeitskleidung im Betrieb gewechselt werden, so gilt die Umkleidezeit als Arbeitszeit. Innerbetriebliche Wegezeiten, die aus der Vorschrift zum innerbetrieblichen Umkleiden resultieren, sind ebenfalls Teil der Arbeitszeit.

Ein Servicetechniker war in der Lebensmittelproduktion eingesetzt. Er war, basierend auf der geltenden Hygieneverordnung in der Lebensmittelproduktion, laut Arbeitsvertrag verpflichtet, den Dienst täglich mit sauberer und vollständiger Dienstkleidung anzutreten. Die Stempeluhr am Betriebseingang sei in einwandfreier Dienstkleidung zu betätigen. Die Wege von und zu den Stempeluhren bzw. Pausenräumen seien leistungsentgeltfrei.

Die Arbeitskleidung wurde von der Arbeitgeberin gestellt, durfte nicht mit nach Hause genommen werden. Nach Betreten des Betriebsgeländes war die Arbeitskleidung an einer Ausgabestelle abzuholen und in einem Umkleideraum anzulegen. Im Bereich der Pforte war anschließend eine erste Stempeluhr zu betätigen. Nach dem Erreichen des Betriebsgebäudes war erneut zu stempeln.

Im Dezember 2014 klagte der Servicetechniker vor dem Arbeitsgericht auf Vergütung der mit dem An- und Ablegen der Arbeitskleidung verbundenen Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten. Die Vergütung sei für 767 Arbeitstage und täglich jeweils 36 Minuten von der Arbeitgeberin zu zahlen.

Die Arbeitgeberin entgegnete, eine Vergütungspflicht beginne erst nach betätigen der zweiten Stempeluhr. Nach § 1 des Arbeitsvertrages sei der Anspruch auf Vergütung für das Umkleiden und damit verbundene innerbetriebliche Wege ausgeschlossen. Etwaige Ansprüche seien verwirkt.

Das Arbeitsgericht sprach dem Servicetechniker nach einer Beweisaufnahme vor Ort die Vergütung für arbeitstäglich 27 Minuten an 767 Arbeitstagen zu. Die Berufung der Arbeitgeberin wurde vom Landesarbeitsgericht (LAG) zurückgewiesen. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Arbeitgeberin weiterhin die vollständige Klageabweisung.

Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG. Die Vorinstanzen hätten zu Recht erkannt, der Servicetechniker habe nach § 611 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) Anspruch auf Vergütung der Zeit, die er unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit für das Umkleiden und die Wege zwischen Ausgabestelle und zweiter Stempeluhr im streitigen Zeitraum benötigte.

Zu den versprochenen Diensten im Sinne von § 611 BGB gehöre nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit zusammenhänge. Jede Tätigkeit, die der Befriedigung fremder Bedürfnisse diene, und im Rahmen des arbeitsvertraglichen Weisungsrechts abverlangt werde, sei als Arbeit und damit im Sinne von § 611 BGB Leistung der versprochenen Dienste anzusehen.

Das An- und Ablegen der Arbeitskleidung sowie das Absolvieren der damit verbundenen innerbetrieblichen Wege stellten in diesem Fall eine Arbeitsleistung dar, die als Teil der versprochenen Dienste vergütungspflichtig sei. Schreibe die Arbeitgeberin Arbeitskleidung vor, die im Betrieb entfernt vom Arbeitsplatz an- und abgelegt werden muss, gehören auch das Umkleiden sowie die damit verbundenen innerbetrieblichen Wege zur Arbeitszeit.

Nach den Vorgaben der Arbeitgeberin durfte der Servicetechniker die Arbeitskleidung erst in den eigens dafür vorgesehenen Räumlichkeiten auf dem Betriebsgelände anlegen und musste sie dort ablegen. Das Tragen der Arbeitskleidung stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigentlichen Tätigkeit des Servicetechnikers. Es entsprach den bei der Produktion von Lebensmitteln geltenden Hygienevorschriften und diente den Interessen der Arbeitgeberin.

Die Arbeitgeberin organisierte die Ausgabestelle für die Arbeitskleidung sowie die Umkleideräume getrennt vom eigentlichen Arbeitsplatz. Damit waren dort Beginn und Ende der Arbeitszeit festgelegt. Der Weg von der Ausgabestelle zum Arbeitsplatz gelte nicht als Weg zur Arbeit.

Für die Vergütungspflicht der Umkleidezeit und den damit verbundenen innerbetrieblichen Wegen seien die Zeiten zu ermitteln, die der Arbeitnehmer unter Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit benötige. Dabei sei etwa zu ermitteln, welche private Kleidung der Arbeitnehmer je nach Jahreszeit vorher trug, und welche innerbetrieblichen Wartezeiten an der Ausgabestelle auf die Arbeitskleidung, auf den Aufzug usw. entstanden.

Das BAG stellte fest, der § 1 des Arbeitsvertrages schließe die Vergütungspflicht für das Umkleiden und die damit verbundenen innerbetrieblichen Wege nicht aus. Der § 1 beziehe sich nur auf Leistungsentgelte nicht auf den zugesagten Stundenlohn. Dementsprechend erfasse die Formulierung „Wegezeiten zu bzw. von den Stempeluhren oder Pausenräumen sind leistungsentgeltfrei“ nicht den im Arbeitsvertrag vereinbarten Stundenlohn.

Die zugesagte Vergütung sei kein Leistungsentgelt und sei als Gegenleistung für die erbrachte Arbeit ohne Bezug auf die erbrachte Leistung zu zahlen. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer müsse den juristischen Begriff „leistungsentgeltfrei“ nicht dahin auslegen, dass damit auch Vergütungsbestandteile erfasst sein könnten, die nicht leistungsbezogen sind. Nach Ansicht des BAG gebe es auch keine andere Auslegung des Begriffes „leistungsentgeltfrei“, da dieser juristisch eindeutig sei.

 Sind Erfüllungsansprüche zwischen den Parteien streitig und ist der Aufwand für die vollständige Aufklärung unverhältnismäßig hoch oder unmöglich, könne das Tatsachengericht unter Würdigung aller Umstände den Umfang gemäß § 287 ZPO (Zivilprozessordnung) schätzen.

Der Umkleidevorgang, den der Servicetechniker auf Weisung der Arbeitgeberin jeweils vor Beginn und nach Ende des Arbeitstags vollziehen musste und die mit diesem verbundenen innerbetrieblichen Wege, als Basis für die Schätzung, seien festgestellt und nicht bestritten. Die Parteien stritten nur über die hierfür arbeitstäglich erforderliche Zeit, die sich nachträglich nicht weiter belegen lasse. Die Schätzung des Arbeitsgerichts von täglich 27 Minuten für Umkleide- und Wegezeiten sei frei von Rechtsfehlern.

Der Anspruch des Servicetechnikers sei auch nicht verwirkt. Für die Verwirkung eines Rechts könne nicht nur das Zeitmoment betrachtet werden. Zusätzlich müssten besondere Umstände auftreten, die eine späte Geltendmachung mit Treu und Glauben unvereinbar machten. Die Verwirkung scheide im vorliegenden Fall aus, da sich aus dem Vortrag der Arbeitgeberin und dem unstreitigen Sachverhalt keine Anhaltspunkte ergäben, dass es der Arbeitgeberin unzumutbar wäre, die Ansprüche des Servicetechnikers zu erfüllen.