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Kündigung wegen zweiter Ehe

Berufliche Anforderungen religiöser Einrichtungen

Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 11.September 2018, Aktenzeichen C 68/17

Religiöse Einrichtungen dürfen nicht ohne wirksame gerichtliche Kontrolle beschließen, dass leitende Angestellte abhängig von ihrer Konfession unterschiedlichen Anforderungen an ihr loyales und aufrichtiges Verhalten ausgesetzt werden.

Ein Chefarzt arbeitete seit dem Jahr 2000 in der Abteilung Innere Medizin eines Krankenhauses. Das Krankenhaus gehört einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Gesellschaftszweck darin besteht, Aufgaben der katholischen Wohlfahrtsorganisation Caritas zu verwirklichen. Der Chefarzt heiratete im August 2008 seine Lebensgefährtin standesamtlich. Vorher wurde seine erste Ehe im März 2008 nach 3 Jahren der Trennung geschieden, jedoch nicht nach katholischem Eherecht für nichtig erklärt.

Im März 2009 erhielt die Arbeitgeberin des Chefarztes Kenntnis von der erneuten Heirat und kündigte dem Chefarzt zum 30. September 2009.

Der Chefarzt erhob Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht. Seine erneute Eheschließung sei kein gültiger Kündigungsgrund. Die Kündigung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Nach der Grundordnung des kirchlichen Dienstes (GrO) aus dem Jahr 1993 dürfe eine Wiederheirat eines katholischen oder konfessionslosen Chefarztes keine Folgen für sein Arbeitsverhältnis mit der Arbeitgeberin haben.

Die Arbeitgeberin trug vor, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Der Chefarzt sei ein leitender Mitarbeiter im Sinne der GrO. Indem er eine nach kanonischem Recht ungültige Ehe einging, habe er erheblich gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis verstoßen. Das Arbeitsgericht gab der Klage des Chefarztes statt. Die Berufung der Arbeitgeberin wurde vom Landesarbeitsgericht (LAG) zurückgewiesen. Die Revision der Arbeitgeberin wurde vom Bundesarbeitsgericht zurückgewiesen und im Wesentlichen damit begründet, dass die Arbeitgeberin nicht katholischen Mitarbeitern mit gleichem Dienstposten bei Wiederheirat nicht kündige.

Die Arbeitgeberin erhob Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Dieses hob mit seinem Urteil von Oktober 2014 das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auf und verwies die Sache zur Neuverhandlung und Entscheidung an das BAG zurück.

Das BAG vertrat die Ansicht, die Entscheidung hänge davon ab, ob die ausgesprochene Kündigung im Hinblick auf § 9 Absatz 2 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) zulässig sei. Die Auslegung dieses Gesetzes müsse jedoch im Einklang mit dem europäischen Unionsrecht stehen. Die Entscheidung hänge von der Auslegung des Artikels 4 Absatz 2 Unterabsatz 2 der europäischen Richtlinie 2000/78 ab.

Das BAG stellte beim EuGH die Frage, ob eine von der katholischen Kirche gehaltene Kapitalgesellschaft des Privatrechts vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78 erfasst werde und von ihren Beschäftigten verlangen könne, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos dieser Kirche verhielten. Können also die Kirchen oder anderen öffentliche oder private Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, verbindlich bestimmen, was ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2000/78 darstelle, und ob sie dabei – entsprechend dem deutschen Verfassungsrecht – autonom auch eine Abstufung von Loyalitätsanforderungen bei gleicher Leitungsfunktion allein nach der Konfessionszugehörigkeit des Beschäftigten vorsehen könnten.

Der EuGH führte aus, dass durch die Festlegung der Begriffe in der europäischen Richtlinie 2000/78 die Rechtsformen der betreffenden Körperschaft auch private Organisationen und Einrichtungen erfasst sind. Dabei sei zu beachten, dass die Regelung nur auf die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen anwendbar sei, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht. Berufliche Tätigkeiten innerhalb dieser Einrichtungen würden von der Regelung erfasst.

Eine Kirche oder eine andere öffentliche oder private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, könne von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sich diese Personen loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Kirche oder Organisation verhalten. Dabei müssten jedoch die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 eingehalten werden.

Es hänge von der Art der fraglichen Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung ab, ob die Religion oder Weltanschauung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation im Sinne dieser Vorschrift darstelle. Mitarbeiter unterfallen den beruflichen Anforderungen, wenn sie an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation mitwirken oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag zu leisten haben, oder die Umstände ihrer Ausübung, etwa die Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen, dafür sprechen.

Eine wesentliche berufliche Anforderung bedeute, dass die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation beruht, aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung anerkannten Rechts dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie notwendig erscheinen muss.

Rechtmäßig bedeute, dass die Anforderungen nicht der Verfolgung eines sachfremden Ziels dienen dürfen. Gerechtfertigt sei eine Anforderung dann, wenn sie durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sei. Die geltend gemachte Gefahr müsse eine Beeinträchtigung von Ethos oder des Rechts auf Autonomie der religiösen Einrichtung als wahrscheinlich und erheblich aufzeigen.

Die berufliche Anforderung müsse mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen. Das bedeutet, die nationalen Gerichte müssen prüfen, ob die berufliche Anforderung angemessen sei und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgehe.

Leitende Mitarbeiter religiöser Einrichtungen dürften bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu einer Religion nur dann unterschiedlich behandelt werden, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts dieses Ethos ist.

Im vorliegenden Fall betreffe die im Ausgangsverfahren in Rede stehende beruflich Anforderung einen bestimmten Gesichtspunkt des Ethos der katholischen Kirche, nämlich den heiligen und unauflöslichen Charakter der kirchlichen Eheschließung. Für die Beratung und medizinische Pflege in einem Krankenhaus und Leitung der Abteilung „Innere Medizin“ als Chefarzt, erscheint die Akzeptanz dieses Eheverständnisses für die Bekundung des Ethos jedoch nicht notwendig. Diese Auffassung werde dadurch unterstrichen, dass Stellen, die medizinische Verantwortung und Leitungsaufgaben umfassen und der Chefarztstelle ähneln, Beschäftigten anvertraut wurden, die nicht katholischer Konfession sind und folglich nicht derselben Anforderung, sich loyal und aufrichtig zu verhalten, unterworfen waren.

Basierend auf der dem EuGH vorgelegten Akte erscheint die berufliche Anforderung nicht als gerechtfertigt im Sinne der Richtlinie 2000/78.

Die private Klinik könne nicht beschließen, an ihre leitend tätigen Beschäftigten je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit unterschiedliche Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne dieses Ethos zu stellen, ohne dass dieser Beschluss gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein könne.

Ein nationales Gericht, das sich in der geschilderten Situation befinde, sei verpflichtet, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede dem Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung zuwiderlaufende Vorschrift der nationalen Regelung unangewendet lässt. Es obliege dem vorlegenden Gericht, die in Rede stehende nationale Vorschrift unangewendet zu lassen, sofern es sich nicht in der Lage sehen sollte, sie konform mit dem Unionsrecht auszulegen.

Eine Kirche oder andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht und die eine privatrechtliche Klinik betreibt, könne nicht beschließen, dass an ihre leitenden Mitarbeiter unterschiedliche Anforderungen in Folge ihrer Religionszugehörigkeit bezüglich ihres loyalen und aufrichtigen Verhaltens gestellt werden, ohne dass der Beschluss gegebenenfalls Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein könne.

Eine Ungleichbehandlung leitender Mitarbeiter in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zu einer Konfession sei nur dann möglich, wenn es sich um eine berufliche Anforderung handele, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.