Kündigung ohne betriebliches Eingliederungsmanagement
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.11.2018, Aktenzeichen 7 AZR 394/17
Ist die Arbeitgeberin zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) eines erkrankten Mitarbeiters verpflichtet, trifft sie eine erweiterte und Darlegungs- und Beweislast. Kommt sie dieser Darlegungslast nicht nach, ist eine Kündigung unangemessen und damit rechtsunwirksam.
Ein Flugkapitän war Mitte Juni bis Ende Juli 2009 arbeitsunfähig erkrankt. Seit dem 10.Mai 2010 war er durchgängig arbeitsunfähig krank. Bescheinigungen über seine Arbeitsunfähigkeit legte er nur bis zum 15. Oktober 2010 vor. Der Flugkapitän litt unter Krankheitssymptomen wie Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, starken Schlafstörungen, Nervenschmerzen in den Extremitäten, Sprachstörungen, Vergesslichkeit und Koordinationsproblemen.
Zur Beurteilung seiner Flugtauglichkeit stellte er sich in einem medizinischen Zentrum vor. Ohne Bewertung von Diagnosen wurde aufgrund der Einnahme von Medikamenten gegen Schlafstörungen und Depressionen eine Fluguntauglichkeit festgestellt. Im Oktober 2015 teilte der Flugkapitän seiner Arbeitgeberin mit, dass er am sogenannten aerotoxischen Syndrom leide. Dieses sei durch verunreinigte Kabinenluft am Arbeitsplatz ausgelöst worden. Es sei nicht absehbar, ob er jemals wieder eine Beschäftigung aufnehmen könne, in Anbetracht seiner Einnahme von Schmerzmedikamenten und physischen Beeinträchtigungen.
Anfang November 2015 kündigte die Arbeitgeberin vorsorglich aus personenbedingten Gründen. Sie begründete, dass der Flugkapitän seit Mai 2010 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt sei. Sie erklärte, dass das Arbeitsverhältnis nach § 13 Absatz 6 Ihres Rahmenvertrages (RV) vom 22.12.2006 auflösend bedingt am 30.04.2016 enden werde. Zu keinem Zeitpunkt wurde ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt.
Ende November 2015 wandte sich der Flugkapitän mit seiner Klage vor dem Arbeitsgericht gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Ende April 2016. Er sei nicht dauerhaft fluguntauglich. Der Kündigung fehle die soziale Rechtfertigung. Die Herbeiführung des Bedingungseintrittes nach § 162 Absatz 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) sei treuwidrig erfolgt. Nach § 15 Absatz 5, § 21 TzBfG (Teilzeit- und Befristungsgesetz) sei das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Es fehle auch ein sachlicher Grund im Sinne von §§ 14 und 21 TzBfG. Es bestünden alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Arbeitgeberin hätte ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchführen müssen. Sie treffe nun eine gesteigerte Darlegungslast bezüglich anderer Beschäftigungsmöglichkeiten.
Der Flugkapitän beantragte feststellen zu lassen, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund einer auflösenden Bedingung und auch nicht durch die Kündigung beendet wurde.
Die Arbeitgeberin argumentierte, das Arbeitsverhältnis sei bereits wegen der auflösenden Bedingung beendet worden. Es sei zulässig eine auflösende Bedingung wegen Fluguntauglichkeit zu vereinbaren. Die Bedingung sei eingetreten, der Flugkapitän habe selbst erklärt, es sei nicht absehbar, dass er wieder eine Beschäftigung aufnehmen könne. Piloten hätten entsprechend den geltenden flugrechtlichen Bestimmungen ihre Flugtauglichkeit nachzuweisen. Dieser Verpflichtung sei der Flugkapitän nicht nachgekommen. Es existiere kein geeigneter Arbeitsplatz am Boden. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement sei nicht erforderlich, da die Flugunfähigkeit nicht mit Arbeitsunfähigkeit gleichzusetzen sei. Allein schon wegen der Flugunfähigkeit sei die personenbedingte Kündigung gerechtfertigt.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht (LAG) stellte fest, das Arbeitsverhältnis sei weder durch die auflösende Bedingung noch durch die Kündigung beendet worden. Im Übrigen wurde die Berufung des Flugkapitäns zurückgewiesen. Vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Arbeitgeberin weiterhin Klageabweisung.
Das BAG entschied, die Revision sei nicht begründet. Das LAG habe zu Recht festgestellt, das Arbeitsverhältnis sei weder durch die auflösende Bedingung noch durch die Kündigung beendet worden.
Die auflösende Bedingung sei nicht eingetreten. Der Flugkapitän habe rechtzeitig innerhalb von 3 Wochen die Bedingungskontrollklage erhoben. Es fehle an der erforderlichen Feststellung und Bekanntgabe der Flugunfähigkeit. Nach den Regelungen des Rahmentarifvertrages ende das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung, wenn der Pilot wegen körperlicher Untauglichkeit seinen Beruf nicht mehr ausüben kann und die Fluguntauglichkeit festgestellt und bekanntgegeben wurde, frühstens nach den Fristen des § 13 Absatz 1 RV. Die Feststellung der Fluguntauglichkeit habe durch ein flugmedizinisches Zentrum oder einen flugmedizinischen Sachverständigen zu erfolgen.
Bereits aus dem Wortlaut des § 13 Absatz 6 Alt. 2 RV ergebe sich, dass Voraussetzung der auflösenden Bedingung nicht allein das objektive Vorliegen der Fluguntauglichkeit sein solle, sondern dass die Fluguntauglichkeit festgestellt und bekanntgegeben werden muss. Mangels abweichender Regelung in der Klausel obliege dies einem flugmedizinischen Zentrum oder einem flugmedizinischen Sachverständigen, da über die Fluguntauglichkeit üblicherweise weder der Pilot noch die Fluggesellschaft entscheide. Dies ergebe sich aus den entsprechenden luftverkehrsrechtlichen Vorschriften. Für dieses Verständnis sprächen auch einschlägige Regelungen in Tarifverträgen anderer Fluggesellschaften.
Vor diesem Hintergrund musste ein Pilot, der den RV mit der Arbeitgeberin unterzeichnete, davon ausgehen, dass auch die Arbeitgeberin die Feststellung der Fluguntauglichkeit durch eine fliegerärztliche Untersuchungsstelle zur Voraussetzung für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses machen wollte. Bei diesem Verständnis der Klausel werde auch dem Bedürfnis nach Rechtsklarheit Genüge getan und ein Streit zwischen den Vertragspartnern darüber, ob Fluguntauglichkeit im Sinne des § 13 Absatz 6 RV vorliegt, weitgehend vermieden.
Entsprechend diesen Betrachtungen liege keine auflösende Bedingung vor. Die Arbeitgeberin habe ihre Auffassung, der Flugkapitän sei dauerhaft fluguntauglich, allein auf die eigenen Angaben des Flugkapitäns in dem Schreiben vom 15. Oktober 2015 gestützt, nicht jedoch auf die Feststellungen eines flugmedizinischen Zentrums oder Sachverständigen. Die Untersuchung des Flugkapitäns in einem medizinischen Zentrum im November 2010 habe die Fluguntauglichkeit nicht im Sinne von § 13 Absatz 6 RV festgestellt. Dort wurde ohne Bewertung von Diagnosen allein aufgrund der damaligen Einnahme von Medikamenten gegen Schlafstörungen und gegen Depression eine Fluguntauglichkeit des Klägers festgestellt. Die Diagnose eines unbehebbaren oder aller Wahrscheinlichkeit nach unbehebbaren körperlichen Mangels ergebe sich hieraus nicht.
Der Kündigungsschutzantrag des Flugkapitäns sei ebenfalls begründet. Die Kündigung sei nicht durch Gründe in der Person des Flugkapitäns im Sinne des § 1 Absatz 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Die Arbeitgeberin habe nicht ausreichend dargelegt, dass es am Boden keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit gebe. Daher könne offenbleiben, ob dem Flugkapitän aufgrund einer Erkrankung oder von Fluguntauglichkeit die Ausübung der ihm von der Arbeitgeberin zuletzt zugewiesenen fliegerischen Tätigkeit als Kapitän auf Dauer oder auf nicht absehbare Zeit unmöglich sei.
Eine personenbedingte Kündigung ist unverhältnismäßig, und damit rechtsunwirksam, wenn sie nicht zur Beseitigung der Vertragsstörung geeignet oder erforderlich ist. Gibt es angemessene mildere Mittel um zukünftige Fehlzeiten zu vermeiden, ist eine Kündigung nicht durch Krankheit oder andere Gründe in der Person bedingt. Zu den milderen Mitteln zählen insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung an einem anderen, leidensgerechten Arbeitsplatz. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit könne sich die Verpflichtung der Arbeitgeberin ergeben, dem Arbeitnehmer die Chance spezifischer Behandlungsmaßnahmen zu bieten, um die Wahrscheinlichkeit künftiger Fehlzeiten auszuschließen.
Der Verlust bzw. Entzug der Fluglizenz könne die ordentliche personenbedingte Kündigung allein nicht rechtfertigen. Es sei zu berücksichtigen, ob bei Fehlen der Erlaubnis eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen möglich sei. Die Arbeitgeberin treffe eine erweiterte Darlegungslast, ob andere Beschäftigungsmöglichkeiten tatsächlich nicht vorhanden sind.
Die Arbeitgeberin war verpflichtet, aufgrund der Arbeitsunfähigkeit des Flugkapitäns nach § 84 Absatz 2 SGB IX ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen. Das betriebliche Eingliederungsmanagement sei auch dann durchzuführen, wenn keine betriebliche Interessenvertretung im Sinne von § 93 SGB IX aF (Sozialgesetzbuch, alte Fassung) gebildet ist. Dazu müsse die Arbeitgeberin umfassend und konkret vortragen, weshalb weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können. Die Arbeitgeberin ist ihrer Darlegungslast nicht nachgekommen.
Aus der Nichtvorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seit Oktober 2010 könne nicht geschlossen werden, dass der Flugkapitän ab diesem Zeitpunkt wieder arbeitsfähig war. Rechtsfolge der Nichtvorlage sei jedenfalls nicht die Vermutung, dass der Arbeitnehmer nicht mehr arbeitsunfähig sei. Kommt der Arbeitnehmer seiner gesetzlichen Obliegenheit nach § 5 Absatz 1 EFZG (Entgeltfortzahlungsgesetz) nicht nach, so habe die Arbeitgeberin ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 7 Absatz 1 Nr. 1 EFZG. Daneben könne bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen ein Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers oder eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht kommen.
Entsprechend ihrem Kündigungsschreiben ging die Arbeitgeberin selbst davon aus, dass der Flugkapitän seit Mai 2010 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei.
Die Arbeitgeberin habe auch nicht geltend gemacht, ein betriebliches Eingliederungsmanagement wäre in diesem Falle nutzlos gewesen.
Soweit die Arbeitgeberin mit der Revision geltend machte, die Kündigung sei nicht nur wegen Arbeitsunfähigkeit ausgesprochen worden, sondern wegen Fluguntauglichkeit, ändere dies nichts daran, dass sie aufgrund der auf Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement verpflichtet war und sie deshalb für das Fehlen anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten, die grundsätzlich auch bei einer Kündigung wegen Fluguntauglichkeit zu prüfen sind, eine erweiterte Darlegungs- und Beweislast trifft, der sie nicht nachgekommen ist.