Verfall von Urlaubsanspruch
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.02.2019, Aktenzeichen 9 AZR 541/15
Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt in der Regel nur dann am Ende des Kalenderjahres, wenn die Arbeitgeberin ihn zuvor über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Nach bisheriger Rechtsprechung verfiel der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers zum Jahresende, falls der Urlaub nicht genommen wurde und selbst dann, wenn der Urlaub von der Arbeitgeberin nicht gewährt wurde.
Unter Beachtung von Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) liegt nun die Initiativlast für die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs bei der Arbeitgeberin. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Arbeitgeberin gehalten, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem sie ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun. Die Arbeitgeberin hat klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub am Ende des Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums verfallen werde, falls der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt.
Im Mai 2013 wurde im Auftrag der Arbeitgeberin eine E-Mail an Mitarbeiter mit dem Hinweis versandt, der Jahresurlaubsanspruch werde nach Vertragsende nicht ausgezahlt oder zu einer anderen Arbeitgeberin transferiert. Urlaub der nicht während der Vertragslaufzeit genommen werde, verfalle automatisch. Mit Schreiben von Ende Oktober 2013 bat die Arbeitgeberin den Mitarbeiter, seine noch vorhandenen Urlaubstage bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses einzubringen. Die Arbeitgeberin erteilte während des Zeitraumes bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am Jahresende an insgesamt 2 Tagen Urlaub. Unmittelbar vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses standen dem Mitarbeiter immer noch 51 Tage Urlaub zu.
Im Juni 2014 verlangte der Mitarbeiter von der Arbeitgeberin erfolglos, seinen nicht genommenen Urlaub abzugelten. Es sei ihm wegen seiner Einbindung in mehrere Arbeitsprojekte nicht möglich gewesen, den Resturlaub vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu nehmen. Seiner anschließenden Klage vor dem Arbeitsgericht wurde stattgegeben. Die Berufung der Arbeitgeberin wurde vom Landesarbeitsgericht (LAG) zurückgewiesen. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte sie ihre Klageabweisung weiter.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, die Begründung des Landesarbeitsgerichts sei nicht geeignet, dem Mitarbeiter die Urlaubsabgeltung zuzusprechen. Das Urteil des LAG wurde aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.
Das LAG sei rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dem Mitarbeiter stehe Schadenersatz zu, weil die Arbeitgeberin es schuldhaft unterlassen habe, dem Mitarbeiter vor dem Untergang des Urlaubsanspruchs von sich aus Urlaub zu gewähren. Die Arbeitgeberin sei verpflichtet gewesen den Urlaub rechtzeitig unabhängig davon zu gewähren, ob der Mitarbeiter sie dazu aufgefordert habe.
Diese Begründung sei in zweifacher Hinsicht unzutreffend.
Der Anspruch auf die Abgeltung von Resturlaub basiere auf den Vorgaben des Bundesurlaubsgesetzes, nicht den Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts. Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf Ersatzurlaub unterliege den Modalitäten des verfallenen Urlaubs.
Die Arbeitgeberin sei ist nicht verpflichtet, einem Arbeitnehmer Urlaub zu gewähren, ohne dass er vorher Urlaubswünsche geäußert hat. Ein Arbeitnehmer werde auch nicht durch unionsrechtliche Regelungen gezwungen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen.
Anhand der Feststellungen des Landesarbeitsgerichtes könne das BAG nicht beurteilen, ob der kurz vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses bestehende Urlaubsanspruch verfallen sei. Das LAG werde zu prüfen haben, ob die Arbeitgeberin ihren Mitwirkungspflichten bei der Gewährung des Urlaubs ausreichend nachgekommen ist.
- 7 BurlG (Bundesurlaubsgesetz) könne entsprechend der europäischen Richtlinie ausgelegt werden. Danach treffe die Arbeitgeberin die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruches. Da im § 7 BurlG keine ausdrückliche Regelung bezüglich der Mitwirkungspflicht und deren Folgen bei Nichtbeachtung aufgenommen wurde, könne dieser Richtlinienkonform ausgelegt werden. Die Vorschrift regele weder die Modalitäten für die Inanspruchnahme und Gewährung des Urlaubs, noch seien dort die Voraussetzungen für den Verfall ausdrücklich festgelegt.
Die Arbeitgeberin habe während der Festlegung des Urlaubs die vom Europäischen Gerichtshof aus Artikel 7 der Richtlinie 2003/88/EG abgeleiteten Mitwirkungspflichten zu beachten.
Der nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlösche in der Regel nur dann am Ende des Kalenderjahres, wenn die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis des § 7 Absatz 3 BUrlG ist die Erfüllung der Mitwirkungspflicht der Arbeitgeberin damit grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes. Das Bundesarbeitsgericht entwickelte seine bisherige Rechtsprechung dementsprechend weiter.
Die zeitliche Festlegung des Urlaubs sei der Arbeitgeberin vorbehalten. Der Urlaub werde durch eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung gewährt. Dabei seien die Urlaubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, falls dem nicht dringende betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten Vorrang verdienen, entgegenstehen.
Die Befristung des Urlaubsanspruchs sei ein vom deutschen Gesetzgeber gewähltes Mittel, um den Arbeitnehmer dazu anzuhalten, den Urlaubsanspruch grundsätzlich im Urlaubsjahr geltend zu machen. Dadurch solle erreicht werden, dass jeder Arbeitnehmer tatsächlich in einem einigermaßen regelmäßigen Rhythmus eine gewisse Zeit der Erholung und Entspannung erhält.
Der vom Bundesurlaubsgesetz beabsichtigte Gesundheitsschutz durch eine tatsächliche Inanspruchnahme der bezahlten Arbeitsbefreiung werde gefördert, wenn die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer über den Umfang des noch bestehenden Urlaubs informiert, ihn auf die für den Urlaub maßgeblichen Fristen hinweist und ihn zudem auffordert, den Urlaub tatsächlich in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall werde ein verständiger Arbeitnehmer seinen Urlaub typischerweise rechtzeitig vor dem Verfall beantragen.
Habe die Arbeitgeberin ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllt, sei der Urlaubsanspruch für das jeweilige Urlaubsjahr unabhängig vom Vorliegen eines Übertragungsgrundes regelmäßig nicht im Sinne von § 7 Absatz 3 Satz 1 BUrlG an das Urlaubsjahr gebunden. Einer Übertragung auf das nächste Kalenderjahr bedürfe es nicht.
Die unionsrechtlichen Vorgaben betreffen ausschließlich den gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen.
Das Landesarbeitsgericht werde erneut zu prüfen haben, ob der Urlaub des Mitarbeiters nach § 7 Absatz 3 BUrlG verfallen ist. Dies hänge maßgeblich davon ab, ob die Arbeitgeberin ihren bei richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 BUrlG gebotenen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist.
Die Arbeitgeberin muss konkret und in völliger Transparenz dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Sie muss ihn – erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt.