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Arbeitsvertraglicher Verweis auf betriebsverfassungsrechtliche Regelungen unwirksam

Dynamische Bezugnahme auf Tarifvertrag im Arbeitsvertrag

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.02.2021, Aktenzeichen 4 AZR 283/20

Arbeitsvertraglich vereinbarte betriebsverfassungsrechtliche Regelungen sind nichtig. Sie würden in das gesetzlich geregelte System der Kompetenzverteilung zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat eingreifen, ohne dass dies vom Betriebsverfassungsgesetz oder auf anderer gesetzlicher Grundlage zugelassen wäre.

Ein CNC-Dreher ist langjährig in Wechselschicht beschäftigt. Für sein Arbeitsverhältnis gelten die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie NRW (Nordrhein-Westfalen). Die Arbeitgeberin ist Mitglied im METALL NRW Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e.V., seit dem 1. Oktober 2008 ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft).

Am 14. Februar 2018 vereinbarten der METALL NRW Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e.V. und die IG Metall Bezirksleitung NRW einen „Tarifvertrag Tarifliches Zusatzgeld“ (TV T-ZUG), der erstmals für das Jahr 2019 eine zusätzliche Einmalzahlung, bestehend aus zwei Komponenten, vorsah. Unter Verzicht auf einen Teil des Zusatzgeldes können die Beschäftigten nach Maßgabe von § 25 des Manteltarifvertrags die Gewährung von Freistellungstagen verlangen.

Im Oktober 2018 beantragte der Dreher die Gewährung von 8 Tagen Freistellung für das Jahr 2019. Die Arbeitgeberin lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass sie nicht tarifgebunden sei. Der Betriebsrat wurde an dieser Entscheidung nicht beteiligt.

Vor dem Arbeitsgericht beantragte der Dreher, die Arbeitgeberin zu verurteilen, ihm 8 Tage zusätzliche Freistellung zu gewähren.

Die Arbeitgeberin beantragte Klageabweisung und argumentierte, § 1 des Arbeitsvertrags enthalte einen dynamischen Verweis auf die Tarifverträge.  Damit seien jedoch nicht tarifliche Bestimmungen erfasst, mit denen die Vertragsparteien nicht gerechnet hätten und auch nicht hätten rechnen können.

Erstmals in der Tarifgeschichte enthalte § 25 des Manteltarifvertrages (MTV) eine Regelung, die es Arbeitnehmern gestattet, statt einer Einmalzahlung acht zusätzliche Freistellungstage beantragen zu können. Für die Arbeitgeberin sei diese Bestimmung derart von einer neuen Qualität, dass sie überraschend kam. Individualvertraglich könnten die tarifvertraglichen Regelungen nur ohne Einbeziehung der betriebsverfassungsrechtlichen Klauseln erfolgen. Daraus folgend habe die Arbeitgeberin ohne Einbeziehung des Betriebsrats die Ansprüche ablehnen können, da Gründe gemäß § 25.5 MTV vorlagen.

Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Die Berufung der Arbeitgeberin wurde vom Landesarbeitsgericht (LAG) zurückgewiesen. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Arbeitgeberin weiterhin Klageabweisung.

Das Bundesarbeitsgericht entschied, das LAG habe die Berufung der Arbeitgeberin zu Recht zurückgewiesen. Die Arbeitgeberin sei verpflichtet dem Dreher acht Freistellungstage zu gewähren. § 25.5 MTV sei jedoch im Arbeitsverhältnis der Parteien nicht anzuwenden.

Basierend auf der Bezugnahme im Arbeitsvertrag seien die Bestimmungen von Manteltarifvertrag und TV T-ZUG anzuwenden, auch wenn deren Bestimmungen ursprünglich nicht unmittelbar und zwingend sind.

  • 1 des Arbeitsvertrages vom September 2007 enthalte zeitdynamische Verweise auf die Tarifverträge als Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne von § 305 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Für die zeitliche Dynamik des Verweises sei es unbedeutend, dass die Arbeitgeberin seit Oktober 2008 nur noch OT-Mitglied im Arbeitgeberverband ist.

Entgegen der Auffassung des LAG würden von der Bezugnahmeklausel auch die dem Freistellungsanspruch zugrunde liegenden Vorschriften des TV T-ZUG und des MTV erfasst.

  • 1 des Arbeitsvertrags bestimmt, dass für das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie in NRW in ihrer jeweils gültigen Fassung gelten. Damit seien schon nach dem Wortlaut der Klausel alle Tarifverträge des Tarifgebiets erfasst, unabhängig von deren Inhalt und dem Zeitpunkt ihrer Vereinbarung.

Es könne dahinstehen, ob sich in Einzelfällen aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes Beschränkungen der Reichweite der Bezugnahme ergeben könnten. Die Arbeitgeberin als Verwenderin der Bezugnahmeklausel könne sich hierauf jedenfalls nicht berufen.

Nach allgemeinen Grundsätzen scheide eine Berufung der Arbeitgeberin darauf, dass eine von ihr selbst gestellte Bezugnahmeklausel unter dem Blickwinkel der AGB-Kontrolle eine dem Arbeitnehmer günstige Tarifbestimmung ausschließen würde, aus.

Weder beim TV T-ZUG noch bei § 25 MTV handele es sich um überraschende Tarifbestimmungen. Die vertragliche Vereinbarung der dynamischen Geltung tarifvertraglicher Regelungen sei Ausdruck der Vertragsfreiheit. Wenn diese Vereinbarung als Allgemeine Geschäftsbedingung erfolgt, sei der Schutz des Arbeitnehmers grundsätzlich durch die §§ 305 ff. BGB sichergestellt. Ein besonderes Schutzbedürfnis der Arbeitgeberin als Verwender erscheine zweifelhaft. Ihr stand es frei, eine solche Klausel zu vereinbaren oder ihre Reichweite von vornherein zu beschränken.

Die maßgeblichen Bestimmungen des TV T-ZUG und des MTV beinhalten keine besonders überraschenden oder fernliegenden Regelungen, mit denen in Tarifverträgen nicht zu rechnen gewesen wäre. Auf Grundlage des TV T-ZUG erhalten die Arbeitnehmer das tarifliche Zusatzgeld als tarifliche Zusatzleistung. Die Gewährung besonderer Geldleistungen durch Tarifvertrag jenseits der regelmäßigen Vergütung sei eine tarifliche Normalität.

Der MTV wiederum enthalte im Grundsatz typische Regelungen, wie sie sich in fast allen Manteltarifverträgen finden, darunter etwa auch Vorschriften zum bezahlten Erholungsurlaub und dessen Dauer oder zu Ansprüchen auf bezahlte Freistellung aus persönlichen Gründen oder bei besonderen Ereignissen.

An dieser Wertung ändere nichts, dass § 25 MTV darüber hinaus für bestimmte Arbeitnehmergruppen ein begrenztes Wahlrecht vorsehe, einen Teil des tariflichen Zusatzgeldes in bezahlte freie Tage umzuwandeln. Die Belastung für die Arbeitgeberin unterscheide sich nicht von einer Regelung, bei der von vornherein für bestimmte, als besonders schutzbedürftig erachtete Arbeitnehmergruppen ein Anspruch auf zusätzliche freie Tage vereinbart oder deren Arbeitszeit verkürzt worden wäre.

Tarifverträge können neben Inhaltsnormen, Abschluss- oder Beendigungsnormen auch Rechtsnormen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen enthalten. Anders als Inhaltsnormen, die die beiderseitige Tarifgebundenheit nach § 3 Absatz 1 TVG (Tarifvertragsgesetz) voraussetzen, genüge zu deren Geltung bereits die Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin.

Betriebsverfassungsrechtliche Normen sind solche, die sich auf Einrichtung und Organisation der Betriebsvertretung und deren Befugnisse und Rechte beziehen. Dabei sei grundsätzlich auch die Erweiterung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats zulässig.

Mangels fehlender Regelungskompetenz seien arbeitsvertraglich vereinbarte betriebsverfassungsrechtliche Regelungen nichtig (§ 134 BGB). Durch diese werde in das gesetzlich geregelte System der Kompetenzverteilung zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat eingegriffen, ohne dass dies vom BetrVG oder auf anderer gesetzlicher Grundlage zugelassen wäre.

Gleiches gelte, soweit im Wege einer umfassenden Verweisungsklausel auch betriebsverfassungsrechtliche Normen des Tarifvertrags in Bezug genommen werden. Diese würden Inhalt des Arbeitsvertrags, ohne dass die Arbeitsvertragsparteien die Kompetenz zur Schaffung von Rechten oder Pflichten der betriebsverfassungsrechtlichen Organe hätten. Eine solche Rechtsfolge schließe das BetrVG aus. Die Vertragsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien sei insoweit begrenzt. Individualrechtliche Ansprüche könnten daraus nicht erwachsen.

Die fehlende Befugnis der Arbeitsvertragsparteien führe allerdings nicht ohne Weiteres zur Gesamtnichtigkeit des Vertrags oder zur Nichtigkeit einer darin enthaltenen Bezugnahmeklausel, sondern in der Regel lediglich zu deren Teilnichtigkeit, soweit durch sie betriebsverfassungsrechtliche Regelungen in Bezug genommen werden.

Nicht die Schaffung einer betriebsverfassungsrechtlichen Norm durch den MTV sei rechtlich unzulässig, sondern deren individualrechtliche Begründung im nicht tarifgebundenen Betrieb über den Weg der arbeitsvertraglichen Bezugnahme.

Es entspreche allgemeiner Auffassung, dass die Nichtigkeit einzelner Vertragsbestimmungen entgegen § 139 BGB aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes regelmäßig nicht zur Nichtigkeit des gesamten Arbeitsvertrags führt.

Gleiches gelte im Hinblick auf eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel, die auch betriebsverfassungsrechtliche Normen eines Tarifvertrags oder eines Tarifwerks in Bezug nimmt. Diese sei nur insoweit nichtig, als die Kompetenz der Arbeitsvertragsparteien überschritten wird.

Ziel der Aufnahme einer Bezugnahmeklausel sei, das Arbeitsverhältnis inhaltlich durch Verweisung auf tarifliche Regelungen zu gestalten. Diesem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien könne nur entsprochen werden, wenn die Bezugnahmeklausel insoweit aufrechterhalten bleibt, als die Inhaltsnormen der Tarifverträge in zulässiger Weise in Bezug genommen werden und dadurch ihr Ziel, die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses, erreicht wird. Zweck des Verbots der individualrechtlichen Vereinbarung betriebsverfassungsrechtlicher Normen sei hingegen der Schutz der durch das BetrVG oder durch Tarifverträge geschaffenen kollektiven Ordnung im Betrieb. Diesem Schutzzweck werde mit einer Teilnichtigkeit der Klausel nur im Hinblick auf die Bezugnahme solcher Normen Genüge getan.

Ausgehend von diesen Grundsätzen seien sowohl der TV T-ZUG als auch § 25.1 bis 25.3 MTV wirksam in Bezug genommen, nicht hingegen § 25.5 MTV.

Der TV T-ZUG enthalte zweifelsfrei ausschließlich Inhaltsnormen. Gleiches gelte für § 25.1 bis 25.3 MTV. Dort seien die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Freistellungstagen festgelegt. Hingegen handele es sich bei § 25.5 MTV um eine betriebsverfassungsrechtliche Norm, die nicht wirksam in Bezug genommen werden konnte.

Zwar begründe § 25.5 MTV kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, da die Arbeitgeberin im Falle des Nichtzustandekommens einer Einigung, ohne Verpflichtung die Einigungsstelle anzurufen, Anträge von Arbeitnehmern ablehnen könne, wenn das entfallende Arbeitsvolumen nicht mit einer entsprechenden Qualifikation betriebsintern ausgeglichen werden kann. Die Tarifvertragsparteien hätten mit § 25.5 MTV aber ein verpflichtendes Erörterungsverfahren geschaffen, das in dieser Form im BetrVG nicht vorgesehen ist und zwingend durchlaufen werden muss, wenn die Arbeitgeberin Anträge auf die Gewährung tariflicher Freistellungstage ablehnen will.

Innerhalb des § 25.5 MTV könne nicht zwischen einer Inhaltsnorm einerseits und einer betriebsverfassungsrechtlichen Norm andererseits mit der Folge unterschieden werden, erstere sei in Bezug genommen. Das Ablehnungsrecht der Arbeitgeberin sei untrennbar mit dem vorgeschalteten Erörterungsverfahren der Betriebsparteien verbunden und in die betriebsverfassungsrechtlichen Strukturen eingebettet. Es sei jeweils von einer Vereinbarung die Rede, welche mit dem Betriebsrat getroffen wird.

Hingegen sei § 25.5 MTV von den Normteilen, in denen die Inhaltsnormen enthalten sind (§ 25.1 bis 25.3 MTV), trennbar, ohne dass diese ihre Bedeutung für die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses verlieren würden. Für die Prüfung der Entstehung der Anspruchsvoraussetzungen sei eine Beteiligung des Betriebsrats nicht notwendig.

Soweit dieses Verständnis dazu führt, dass für nicht tarifgebundene Arbeitgeber, die die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens lediglich arbeitsvertraglich in Bezug genommen haben, kein Ablehnungsrecht wegen fehlender innerbetrieblicher Kompensationsmöglichkeit der ausfallenden Arbeitszeit besteht, sei dies die Folge der rechtlichen Begrenzung der Reichweite von Bezugnahmeklauseln im Hinblick auf betriebsverfassungsrechtliche Normen. Für deren Anwendung ist nach § 3 Absatz 2 TVG die bloße Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin ausreichend, aber auch erforderlich.

Eine ergänzende Vertragsauslegung, etwa in dem Sinne, dass die Arbeitgeberin bei fehlender innerbetrieblicher Kompensationsmöglichkeit ein einseitiges Ablehnungsrecht ohne Beteiligung des Betriebsrats zustünde, scheide wegen fehlender Voraussetzungen aus. Es fehle schon an einer Regelungslücke. Allein der Umstand, dass ein Vertrag für eine bestimmte Fallgestaltung keine Regelung enthält, bedeute noch nicht, dass es sich um eine planwidrige Lücke handele. Von einer Planwidrigkeit könne nur dann die Rede sein, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lasse, die erforderlich wäre, um den ihm zugrunde liegenden Regelungsplan zu verwirklichen, mithin ohne Vervollständigung des Vertrags eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen sei.

Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrags im Jahr 2007 sei der Vertrag nicht lückenhaft gewesen. Vielmehr galten aufgrund der Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin die betriebsverfassungsrechtlichen Normen der Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens kraft Gesetzes unabhängig von der Tarifgebundenheit des einzelnen Arbeitnehmers. Auf die Reichweite der vertraglichen Bezugnahmeklausel kam es insoweit nicht an.

Erst aufgrund des Wechsels der Arbeitgeberin in die OT-Mitgliedschaft im Jahr 2008 galten die im Jahr 2018 in die manteltariflichen Bestimmungen eingefügten betriebsverfassungsrechtlichen Normen des § 25.5 MTV nicht mehr und konnten auch nicht über den Weg der arbeitsvertraglichen Bezugnahme Anwendung finden. Auch unter Beschränkung auf die Inhaltsnormen erfülle die Bezugnahme aber weiterhin ihren Zweck der dynamischen inhaltlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses.

Durch den Wegfall der Möglichkeit zur Ablehnung der Freistellung würden die Interessen der Arbeitgeberin nicht derart beeinträchtigt, dass von einem ergänzungsbedürftigen Arbeitsvertrag auszugehen wäre.

Der Dreher erfülle unbestritten die Anspruchsvoraussetzungen für die begehrten acht Freistellungstage aus dem Jahr 2019. Der Freistellungsanspruch betrug daher für das Jahr 2019 bei einer Arbeitszeitverteilung auf fünf Wochentage acht Tage.

Eine Ablehnung der Freistellung wegen einer von der Arbeitgeberin näher dargelegten fehlenden betrieblichen Kompensationsmöglichkeit scheide mangels wirksamer vertraglicher Bezugnahme dieses Teils der Tarifbestimmung aus.

Der Freistellungsanspruch sei auch nicht mit Ablauf des Jahres 2019 erloschen, da er nach § 25.3 Abs. 3 MTV nur dann untergehe, wenn er aus personenbedingten Gründen nicht oder nicht vollständig genommen werden kann. Der Anspruch bestehe also fort.