Verfall von Urlaubsanspruch bei Langzeiterkrankung
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.09.2021, Aktenzeichen 9 AZR 3/21 (A)
Der gesetzliche Urlaubsanspruch verfällt nicht, wenn die Arbeitgeberin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkommt den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – aufzufordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Das gilt auch wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist.
Ein Monteur kündigte sein Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen zum Ende des Monats Dezember 2019. Im Zeitraum von Mitte November 2015 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses war er krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Sein Anspruch auf Erholungsurlaub betrug 30 Tage pro Kalenderjahr.
Im Jahr 2015 gewährte die Arbeitgeberin ihm 21 Urlaubstage. In den Jahren 2016 und 2017 erhielt er keinen Urlaub. Die Arbeitgeberin hat den Monteur weder aufgefordert, den Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfallen kann.
In der Lohnabrechnung für den Monat Januar des Jahres 2019 waren insgesamt 113 Urlaubstage angegeben, aufgelistet in den Rubriken Urlaubsstand, laufendes Jahr und Resturlaub, wovon der Resturlaub 83 Tage betrug. Beginnend mit dem Monat Februar 2019 beschränkte die Arbeitgeberin die Angaben auf den nicht genommenen Urlaub aus dem laufenden Kalenderjahr und dem Vorjahr bzw. den letzten beiden Vorjahren mit nun jeweils deutlich niedrigeren Zahlen für die Urlaubstage.
Der Monteur forderte die Arbeitgeberin im April und Mai 2019 erfolglos auf, die Kürzung seiner Urlaubsansprüche zurückzunehmen. In seiner anschließenden Klage beim Arbeitsgericht machte der Monteur geltend, die Arbeitgeberin sei verpflichtet 9 Urlaubstage aus dem Jahr 2015 und jeweils 30 Urlaubstage aus den Jahren 2016 und 2017 zu vergüten.
Trotz seiner dauerhaften Erkrankung sei der Urlaub nicht verfallen, da die Arbeitgeberin es unterlassen habe, ihn rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Aus diesem Grund sei er nicht in der Lage gewesen, bei den behandelnden Ärzten auf eine Gesundschreibung hinzuwirken und Urlaub tatsächlich zu nehmen. Sein Urlaubsanspruch habe bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses jedenfalls als Ersatzurlaubsanspruch fortbestanden. Die Arbeitgeberin habe die Resturlaubsansprüche durch die fortlaufende Saldierung in den Lohnabrechnungen anerkannt.
Die Arbeitgeberin argumentierte, die nichterfüllten Urlaubsansprüche des Monteurs seien 15 Monate nach dem Ende des jeweiligen Urlaubsjahres erloschen. Auf den drohenden Verfall des Urlaubs habe sie nicht hinweisen müssen, da der Monteur aufgrund seiner Erkrankung objektiv nicht in der Lage gewesen ist, den Urlaub zu nehmen. Die Angabe des verfallenen Urlaubs als Resturlaub in der Lohnabrechnung beruhe auf einem Systemfehler.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. In seiner Berufung vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) änderte der Monteur den Feststellungsantrag in einen Leistungsantrag auf Abgeltung des Urlaubsanspruchs. Das LAG wies die Berufung des Monteurs zurück. Mit seiner Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte der Monteur seinen Antrag weiter.
Das BAG entschied, die Revision zur Abweisung der Klage in Bezug auf Zahlung von Urlaubsabgeltung für Urlaub aus den Jahren 2016 und 2017 ist unbegründet. Eine Entscheidung über die Abgeltung von Urlaub für das Jahr 2015 wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen im Revisionsverfahren – 9 AZR 401/19 (A) – ausgesetzt.
Der Monteur hat für die Jahre 2016 und 2017 keinen Anspruch gemäß § 7 Absatz 4 BUrlG (Bundesurlaubsgesetz) auf Urlaubsabgeltung, weil seine gesetzlichen und vertraglichen Urlaubsansprüche aus den genannten Jahren 15 Monate nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahrs und damit vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses erloschen sind. Das gilt entsprechend für den vertraglichen Mehrurlaub, weil die Parteien keine vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Vereinbarung getroffen haben.
Der gesetzliche Mindesturlaub des Monteurs, resultierend aus dem Jahr 2016 ist nach § 7 Absatz 3 Satz 3 BUrlG am 31. März 2018 verfallen und der aus 2017 am 31. März 2019.
Für den gesetzlichen Mindesturlaub gilt, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden damit der Anspruch nicht erlischt.
- 7 Absatz 3 BUrlG ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahrs und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen. Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahrs.
Besteht die Arbeitsunfähigkeit am 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahrs fort, so gebietet das Unionsrecht keine weitere Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs. In diesem Fall liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses der Arbeitgeberin vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen.
Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht nach der Feststellung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeberin den Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit gewährleistet.
Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die gesetzlichen Urlaubsansprüche des Monteurs aus den Jahren 2016 und 2017, die zunächst aufrechterhalten blieben, weil es dem Monteur infolge seiner Arbeitsunfähigkeit nicht möglich war, sie in Anspruch zu nehmen, am 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahrs erloschen. Dem Erlöschen der Urlaubsansprüche steht nicht entgegen, dass die Arbeitgeberin ihre Aufforderungs- und Hinweispflichten nicht erfüllt hat.
Die Befristung des Urlaubsanspruchs setzt bei einer mit Artikel 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG grundsätzlich voraus, dass die Arbeitgeberin konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss sie den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt.
Hat die Arbeitgeberin dieser Mitwirkungspflicht nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahrs nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahrs entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 BUrlG. Die Arbeitgeberin kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass sie ihre Mitwirkungspflicht für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt.
Diese Grundsätze gelten bei Langzeiterkrankungen von Arbeitnehmern nicht uneingeschränkt. Die Aufforderungs- und Hinweispflichten der Arbeitgeberin bestehen auch während der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. Der Arbeitgeberin ist es möglich, den arbeitsunfähigen Arbeitnehmer rechtzeitig entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu unterrichten und ihn aufzufordern, den Urlaub bei Wiedergenesung vor Ablauf des Urlaubsjahrs oder des Übertragungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahrs oder des Übertragungszeitraums gewährt und genommen werden kann.
Die Aufforderungs- und Hinweispflichten können ihren Zweck erfüllen, auch wenn die Dauer der Erkrankung nicht absehbar ist. Ihre rechtzeitige Erfüllung stellt sicher, dass der Arbeitnehmer die durch das Bundesurlaubsgesetz beabsichtigte Möglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Urlaubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag Urlaub bei Bedarf längerfristig gestaffelt und geplant nach seiner Wiedergenesung in Anspruch nehmen kann, sofern die Arbeitgeberin nicht berechtigt ist, die Gewährung von Urlaub nach § 7 Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 BUrlG abzulehnen.
War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahrs durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahrs arbeitsunfähig oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende Arbeitsunfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahrs ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn weiterer Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Handlungen oder Unterlassungen der Arbeitgeberin, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs ursächlich.
Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, kann seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben. Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen und Hinweise der Arbeitgeberin ankäme – von vornherein ausgeschlossen, weil die Arbeitsunfähigkeit auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist. Ursache für die fehlende Möglichkeit, den Urlaubsanspruch aus den Jahren 2016 und 2017 zu realisieren, war allein die langandauernde Erkrankung des Monteurs und nicht die unterlassene Mitwirkung der Arbeitgeberin.
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Urlaubsanspruch des Monteurs aus den Jahren 2016 und 2017 erloschen, obwohl die Arbeitgeberin ihren Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.
Soweit der Monteur in den Vorinstanzen gegen das Erlöschen seiner Urlaubsansprüche eingewandt hat, er sei aufgrund der unterlassenen Aufforderungen und Hinweise durch die Arbeitgeberin nicht in der Lage gewesen, bei den behandelnden Ärzten auf seine Gesundschreibung „zwecks Urlaubsnahme“ hinzuwirken, lässt er außer Acht, dass die Gewährung von Urlaub, wie sie sich aus § 9 BUrlG ergibt, Arbeitsfähigkeit voraussetzt. Urlaub dient der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, nicht aber ihrer Wiederherstellung oder der Wiedereingliederung des Arbeitnehmers.
Der Monteur hat auch keinen Anspruch auf Abgeltung von vertraglichem Mehrurlaub aus den Jahren 2016 und 2017. Seine Ansprüche auf vertraglichen Mehrurlaub aus den Jahren 2016 und 2017 sind ebenfalls vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses erloschen. Die Parteien haben im Arbeitsvertrag vom 3. Dezember 2003 ihre jeweiligen Mitwirkungspflichten bei der Verwirklichung des vertraglichen Mehrurlaubs und die Voraussetzungen seiner Befristung und seines Verfalls nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt. Es ist deshalb von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf vertraglichen Mehrurlaub auszugehen.
Die Arbeitgeberin habe den Resturlaub des Mitarbeiters mit den Lohnabrechnungen weder anerkannt noch darauf verzichtet, sich auf dessen Erlöschen zu berufen. Ebenso wenig habe sie sich mit diesen verpflichtet, verfallenen Urlaub auch dann abzugelten, wenn dies nach Maßgabe der gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen nicht geschuldet ist. Bei den Angaben in den Lohn-/Gehaltsabrechnungen handelt es sich nicht um Willenserklärungen, sondern um Wissenserklärungen der Arbeitgeberin.
Die Lohnabrechnungen waren nicht darauf gerichtet, die Rechtslage bezüglich der nicht erfüllten Urlaubsansprüche des Monteurs zu ändern. Die Abrechnung bezweckt die Information über die erfolgte Zahlung. Der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält. Deshalb stellt eine Entgeltabrechnung regelmäßig lediglich eine Wissenserklärung, nicht aber eine rechtsgestaltende Willenserklärung dar.
Hiervon ist auch auszugehen, wenn die Arbeitgeberin in einer Entgeltabrechnung, über die Pflichtangaben hinausgehend, eine bestimmte Anzahl von Urlaubstagen ausweist und genommene und offene Urlaubstage vergleichbar mit einem Arbeitszeitkonto fortlaufend saldiert. Der Arbeitnehmer kann aus diesen Mitteilungen nicht ohne weiteres ableiten, es handele sich um eine auf Bestätigung oder gar Veränderung der Rechtslage gerichtete Willenserklärung im Sinne eines deklaratorischen oder konstitutiven Schuldanerkenntnisses oder die Arbeitgeberin wolle den ausgewiesenen Urlaub auch dann gewähren oder abgelten, wenn sie ihn nicht schuldet.
Besondere Umstände, die auf einen Geschäftswillen der Arbeitgeberin schließen lassen, hat das Landesarbeitsgericht weder festgestellt noch haben die Parteien solche vorgetragen.
Das Bundesarbeitsgericht kann nicht unabhängig von der Beantwortung der im Revisionsverfahren – 9 AZR 401/19 (A) – gestellten Vorlagefragen durch den Gerichtshof entscheiden, ob die Revision begründet ist. Die Begründetheit der Klage zur Abgeltung des restlichen vertraglichen Mehrurlaubs für das Jahr 2015 hängt davon ab, ob das Unionsrecht dem Verfall des Urlaubs für das Jahr 2015 nach § 7 Absatz 3 Satz 3 BUrlG entgegenstand.
Da die Parteien für den vertraglichen Mehrurlaubs im Umfang von 9 Urlaubstagen keine abweichende Regelung getroffen haben, gelten für dessen Verwirklichung die gleichen Regeln wie für den gesetzlichen Mindesturlaub. Daher gelten die unionsrechtlichen Vorgaben, die an sich ausschließlich den gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen betreffen, im Streitfall auch für den vertraglichen Mehrurlaub.