Partielle Tarifunfähigkeit einer Gewerkschaft nicht möglich
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.09.2022, Aktenzeichen 1 ABR 42/21
Die Tariffähigkeit ist die rechtliche Fähigkeit, im selbst beanspruchten Organisationsbereich wirksam Tarifverträge mit dem sozialen Gegenspieler abzuschließen. Diese Fähigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich einer Vereinigung einheitlich und unteilbar. Eine teilweise, auf bestimmte Branchen, Regionen, Berufskreise oder Personengruppen beschränkte Tariffähigkeit gibt es nicht.
Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di hat in der Vergangenheit mit einigen Trägern von Pflegeeinrichtungen Tarifverträge abgeschlossen. Im Februar 2021 vereinbarte sie mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche einen Tarifvertrag über Mindestarbeitsbedingungen in der Pflegebranche.
Der Arbeitgeberverband Pflege e. V. (AGVP) hat ein arbeitsgerichtliches Verfahren eingeleitet, das die Tarifunfähigkeit von ver.di in der Pflegebranche feststellen soll.
An dem Verfahren sind zudem die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dem ver.di angehört, sowie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beteiligt.
Der AGVP hat geltend gemacht, ver.di sei in der Pflegebranche nicht tariffähig. Der Gewerkschaft fehle in diesem Bereich die erforderliche, durch die Zahl der organisierten Arbeitnehmer vermittelte, Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite. Das Landesarbeitsgericht wies die Anträge des AGVP ab. Mit seiner Rechtsbeschwerde vor dem Bundesarbeitsgericht verfolgte der AGVP sein Begehren weiter.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, der Antrag nicht zulässig.
Das hauptsächliche Begehren des Antragstellers ist auf die Feststellung einer branchenbezogenen Tarifunfähigkeit von ver.di gerichtet ist. Durch gerichtlichen Beschluss soll festgestellt werden, dass ver.di in der Pflegebranche im Sinne von § 10 Satz 2 und Satz 4 AEntG (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) nicht tariffähig ist.
Das für eine Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Vereinigung in § 97 ArbGG vorgesehene besondere Beschlussverfahren ermöglicht es nicht, einen solchen Antrag anzubringen. Dies folgt aus seinem Zweck.
Gegenstand eines Verfahrens kann nach § 2a Absatz 1 Nr. 4, § 97 ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) nur die vom Antragsteller begehrte Feststellung sein, ob eine Vereinigung tariffähig (oder tarifzuständig) ist. Durch eine lediglich auf die partielle Tariffähigkeit einer Vereinigung gerichtete Antragstellung kann die mit diesem Verfahren beabsichtigte Klärung einer für die Teilnahme am Tarifgeschehen unerlässlichen Eigenschaft nicht erreicht werden.
Die Tariffähigkeit ist die rechtliche Fähigkeit, im selbst beanspruchten Organisationsbereich wirksam Tarifverträge mit dem sozialen Gegenspieler abzuschließen. Diese Fähigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für den beanspruchten Zuständigkeitsbereich einer Vereinigung einheitlich und unteilbar. Eine teilweise, auf bestimmte Branchen, Regionen, Berufskreise oder Personengruppen beschränkte Tariffähigkeit gibt es nicht.
Wenn die Arbeitnehmerkoalition in einem zumindest nicht unbedeutenden Teil des von ihr selbst bestimmten Zuständigkeitsbereichs über Durchsetzungsmacht und organisatorische Leistungsfähigkeit verfügt, ist dies ausreichend.
Das Prinzip der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation sichert die Funktionsfähigkeit der durch Artikel 9 Absatz 3 GG (Grundgesetz) gewährleisteten Tarifautonomie.
Wäre die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung nicht einheitlich bezogen auf den von ihr selbst gewählten Organisationsbereich zu beurteilen, könnte sich bei jedem Tarifvertrag die Frage stellen, ob die ihn abschließende Arbeitnehmerkoalition im jeweiligen räumlichen, fachlichen und ggf. personellen Bereich über eine ausreichende Durchsetzungsmacht verfügt und deshalb insoweit partiell tariffähig ist. Die Grenzen, innerhalb derer eine nur teilweise Tariffähigkeit anzunehmen wäre, könnten kaum bestimmt werden. Die sich hieraus ergebenden Rechtsunsicherheiten würden die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ernsthaft gefährden.
Weder der Wortlaut noch der sich aus den Gesetzesmaterialien ergebende Sinn und Zweck von §§ 10 bis 13 sowie §§ 7, 7a AEntG geben Veranlassung zu der Annahme, für die Pflegebranche könne eine partielle Tariffähigkeit anerkannt werden.
Die Regelungen in §§ 10 bis 13 AEntG, die erst auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales in das zum 24. April 2009 in Kraft getretene Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen wurden, zielen ausschließlich darauf ab, in der Pflegebranche auf der Grundlage einer Kommissionsempfehlung Mindestarbeitsbedingungen durch Rechtsverordnung zu schaffen und durchzusetzen.
Auch die zum 29. November 2019 in Kraft getretenen Modifikationen dieser Vorschriften durch Artikel 1 des Gesetzes für bessere Löhne in der Pflege (Pflegelöhneverbesserungsgesetz) bezwecken lediglich die einfachere Festlegung besserer Arbeitsbedingungen in dieser Branche. Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Gesetzgeber habe mit diesen Bestimmungen vom Grundsatz der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition abweichen wollen.
Den in der Pflegebranche tarifzuständigen „Gewerkschaften“ wird ausdrücklich das Recht eingeräumt, Mitglieder für die Pflegekommission vorzuschlagen. Damit hat sich der Gesetzgeber bewusst eines gesetzesübergreifend einheitlichen Gewerkschaftsbegriffs bedient, der das Erfordernis der Tariffähigkeit dieser Arbeitnehmervereinigung, im Sinne der von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen hieran, mit einschließt.
Das für eine Auswahl zwischen mehreren Gewerkschaften vorgesehene Kriterium ihrer Repräsentativität kann nur bei Arbeitnehmerorganisationen greifen, die tariffähig sind.
Das Erfordernis einer Tarifgebundenheit oder einer zumindest tariflichen Vorgaben entsprechenden Entlohnung des Pflegepersonals als Voraussetzung für den Abschluss eines Versorgungsvertrags zwischen einer Pflegeeinrichtung und den Pflegekassen lässt nicht den Schluss zu, der Grundsatz der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit gelte nicht für die Pflegebranche.
Mit den Anforderungen an die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition soll nicht den Interessen des jeweiligen sozialen Gegenspielers Rechnung getragen, sondern die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie als solche gesichert werden.
Dem AGVP und seinen Mitgliedern steht es frei, mit einer tariffähigen Arbeitnehmervereinigung in Tarifverhandlungen einzutreten oder hiervon abzusehen.
Das Erfordernis, dass die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerkoalition nur einheitlich und unteilbar ist, hat weder für den Antragsteller noch seine Mitglieder berufsregelnde Tendenz. Damit ist auch Artikel 12 Absatz 1 GG nicht verletzt. Die Norm schützt die freie berufliche Betätigung und gewährleistet dem Einzelnen das Recht, jede Tätigkeit, für die er sich geeignet glaubt, zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen.
Die Annahme der partiellen Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung gefährdete sie ernsthaft. Selbst wenn der Senat zugunsten des AGVP davon ausginge, der Grundsatz der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Tariffähigkeit berühre ihn oder seine Mitglieder in den genannten grundrechtlichen Gewährleistungen, wäre eine solche Beeinträchtigung jedenfalls durch das Erfordernis der Funktionsfähigkeit der durch Artikel 9 Absatz 3 GG geschützten Tarifautonomie gerechtfertigt.
Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, ver.di sei tariffähig.
Ausweislich ihrer Satzung handelt es sich um eine Vereinigung, die sich zur Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder in deren Eigenschaft als Arbeitnehmer zusammengeschlossen hat und willens ist, Tarifverträge abzuschließen. Ver.di ist frei gebildet, gegnerunabhängig und auf überbetrieblicher Grundlage organisiert. Zudem erkennt sie in ihrer Satzung das geltende Tarifrecht als Teil der Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaats als verbindlich an.
Darüber hinaus verfügt ver.di nicht nur über eine leistungsfähige Organisation, sondern, trotz fehlender Angaben zum Organisationsgrad, schon angesichts der Zahl ihrer Mitglieder auch über die notwendige Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler. Unabhängig davon hat sie in weiten und bedeutenden Teilen ihres nach dem Zusammenschluss ihrer Gründungsgewerkschaften nicht nennenswert erweiterten satzungsmäßigen Organisationsbereichs langjährig am Tarifgeschehen teilgenommen und zahlreiche Tarifverträge abgeschlossen. Selbst eine etwa fehlende Durchsetzungsmacht in der Pflegebranche hat nicht zur Folge, dass ver.di nicht tariffähig ist. Diese Branche stellt nicht das Kernstück des von ver.di beanspruchten Organisationsbereichs dar.
Anmerkung zu dieser Entscheidung von RA Marion Zehe, Fachanwalt für Arbeitsrecht:
“Es war zu erwarten – sie haben es fast geschafft. Ich gehe hier nicht juristisch auf dieses Urteil ein, sondern nähere mich anders: Gefühlt nach meiner Erinnerung haben tarifgebundene und teilweise auch ungebundene Arbeitgeber in den 1970 Jahren vermehrt damit begonnen Arbeitsverträge derart zu gestalten, dass auch nicht tarifgebundene Arbeitnehmer*innen in den Genuss der tariflichen Leistung kamen. Man nannte diese Menschen Trittbrettfahrer. Ohne persönlichen Einsatz, also ohne einen Gewerkschaftsbeitrag zu erbringen, bekamen auch sie beispielsweise die jeweiligen Tariferhöhungen. In Folge war über Jahrzehnte eine Tarifflucht der Beschäftigten aus der Gewerkschaft zu beobachten. Das Resultat dessen sehen wir jetzt an diesem Urteil. Arbeitgeberverbände beginnen zu bezweifeln, ob Gewerkschaften, hier Ver.di, noch tariffähig sind – also das Recht haben noch Tarifverträge abzuschließen.
Voraussetzung für eine Gewerkschaft ist u.a., dass sie in der Lage ist, Forderungen der Beschäftigten in Tarifverträgen durchzusetzen. Dazu brauchen sie ausreichend Mitglieder, die dann auch noch streikbereit sein sollten. Genau das wird jetzt in Frage gestellt.
Unbenommen, auch bei Gewerkschaften war/ist nicht alles im Lot. Aber Gewerkschaften sind die einzigen Verbände, denen nach dem Grundgesetz das Recht zusteht, für Arbeitnehmer*innen Tarifverträge zu verhandeln und abzuschließen. Und eine Gewerkschaft ist so gut wie ihre Mitglieder. Denn eine Gewerkschaft ist so organisiert, dass die Mitglieder großes Mitspracherecht haben.
Im Moment haben wir eine gute Ausgangsposition für Arbeitnehmer*innen auf dem Arbeitsmarkt. Das dürfte sich aber in den nächsten 10-20 Jahren ändern. Bereits jetzt sind ca. 70-80% aller Arbeitsplätze durch Maschinen/ Robotik/ KI, ersetzbar. Wo führt das hin? Und vor allem wo führt das hin, wenn es dann mal keine Gewerkschaft mehr gibt, die politisch für gute Regelungen der Beschäftigen in dieser Situation sorgen kann?“