Vergütung der Hausnotruf-Bereitschaft
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24.02.2022, Aktenzeichen 6 AZR 251/21
Das Erfordernis eines Tätigkeitsmerkmals einer Entgeltgruppe ist regelmäßig als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Entgeltgruppe genannten Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt.
Ein Bereitschaftsfahrer wurde in einem Seminar zum Thema Einsatzkräfte im Hausnotruf geschult. Ihm wurden Kenntnisse in der Kundenbetreuung und in Lagerungstechniken vermittelt.
Der Bereitschaftsfahrer wurde von der Arbeitgeberin, einem Verein der zum Johanniterorden gehört, ein- bis zweimal im Monat zur Hausnotrufdienst-Bereitschaft eingeteilt. Eine Bereitschaft dauerte jeweils von montags 09:00 Uhr bis montags 09:00 Uhr der Folgewoche.
Vor Ort war es seine Aufgabe, die Situation einzuschätzen und Maßnahmen zu ergreifen. Die gefallene Person war zurück ins Bett, auf die Couch oder in den Rollstuhl zu bringen. Falls notwendig, waren die Personen zur Toilette zu bringen und bei Inkontinenz auch zu waschen. Bei erhöhtem medizinischem Bedarf war der Hausarzt oder Notarzt zu benachrichtigen. Falls erforderlich waren Erste-Hilfe-Maßnahmen einzuleiten.
Mit seiner Klage vor dem Arbeitsgericht hat der Bereitschaftsfahrer für den Zeitraum von Januar bis einschließlich September 2016 unter Berücksichtigung seiner Teilzeitbeschäftigung die Entgeltdifferenz zwischen dem Grundentgelt nach Entgeltgruppe Fahrdienst und dem der Entgeltgruppe 3 Betreuung/Pflege, entsprechend den Arbeitsvertragsrichtlinien der Johanniter, sowie die Vergütungsdifferenz zwischen Rufbereitschafts- und Bereitschaftsdienstentgelt für die inaktiven Zeiten während der Hausnotruf-Bereitschaft geltend gemacht.
Die zeitliche Vorgabe der Arbeitgeberin, den Notrufenden innerhalb von 35 Minuten zu erreichen, habe zusammen mit der Verpflichtung, die jeweiligen Wohnungsschlüssel aus dem Schlüsselschrank in der Dienststelle zu holen, bei einer potentiell dreißigminütigen Fahrzeit faktisch zu einer Aufenthaltsbeschränkung geführt. Die inaktiven Zeiten seien deshalb als Bereitschaftsdienstzeiten einzuordnen und entsprechend zu vergüten.
Die Arbeitgeberin entgegnete, der Bereitschaftsfahrer habe eine Mischtätigkeit ausgeübt. Die Tätigkeit im Rahmen der Hausnotruf-Bereitschaft sei jedoch für seine Gesamttätigkeit nicht prägend gewesen.
Der Bereitschaftsfahrer könne ferner nicht verlangen, für die inaktiven Zeiten der Hausnotruf-Bereitschaft ein Bereitschaftsdienstentgelt zu erhalten. Die Hausnotruf-Bereitschaft sei ohne Vorgabe eines Aufenthaltsortes und ausdrücklich als Rufbereitschaft angeordnet worden. Sollte es sich bei der Hausnotruf-Bereitschaft tatsächlich nicht um Rufbereitschaft gehandelt haben, seien diese Zeiten allenfalls als Arbeitsbereitschaft zu werten und deshalb bereits mit dem Tabellenentgelt abgegolten.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht verfolgte die Arbeitgeberin ihre Klageabweisung weiter.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, dem Bereitschaftsfahrer steht die begehrte Vergütung zu. Die von ihm erbrachten Hausnotruf-Bereitschaften sind als Bereitschaftsdienstzeiten zu vergüten. Ihm steht die geltend gemachte und der Höhe nach unstreitige Entgeltdifferenz zu.
Die Tätigkeit des Bereitschaftsfahrers entsprach den Anforderungen des Richtbeispiels in Teil A der Entgeltgruppenregelung.
Die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmals einer Entgeltgruppe sind regelmäßig als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine dem in der Entgeltgruppe genannten Regel- oder Richtbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt.
Der Bereitschaftsfahrer übte eine dem in Teil A der Entgeltgruppe 3 Betreuung/Pflege genannten Richtbeispiel „Mitarbeiterin im Hausnotruf-Einsatzdienst mit Betreuungsaufgaben“ entsprechende Tätigkeit aus.
Bei den vom Bereitschaftsfahrer im Rahmen der Hausnotruf-Bereitschaft unstreitig wahrgenommenen Aufgaben wie z.B. aus dem Bett oder dem Rollstuhl gefallenen Notrufenden aufzuhelfen, sie zurückzubetten bzw. in den Rollstuhl oder auf eine andere Sitzgelegenheit zu setzen, mit ihnen auf die Toilette zu gehen und sie bei Inkontinenz auch zu waschen, handelt es sich um Maßnahmen mit eindeutig versorgendem Charakter. Diese Verrichtungen dienen der Hilfeleistung und gehen erkennbar über das bloße Einschätzen der vorgefundenen Situation, also ob bspw. ein Arzt bzw. der Rettungsdienst zu benachrichtigen ist oder Hilfsmittel zu besorgen sind, hinaus.
Es ist unerheblich, dass es sich nicht um jeweils länger andauernde Pflegetätigkeiten, sondern um eher kurzzeitige Hilfestellungen handelt, da Letzteres in der Natur von Hausnotruf-Einsätzen liegt.
Die Tätigkeit des Bereitschaftsfahrers als Einsatzkraft im Hausnotrufdienst setzte bezüglich der Betreuung der Kunden des Notrufdienstes eine weitere Qualifikation voraus. Dies ergibt sich schon aus der notfallbezogenen Aufgabenstellung und wird zudem dadurch belegt, dass das Bildungsinstitut der Johanniter ein auch vom Bereitschaftsfahrer besuchtes Seminar zum Thema „Einsatzkräfte im Hausnotruf der JUH“ angeboten hat, welches sich u.a. mit den Themen Kundenbetreuung und Lagerungstechniken befasst.
Einer Eingruppierung des Bereitschaftsfahrers in die Entgeltgruppe 3 Betreuung/Pflege steht nicht entgegen, dass er außerhalb des Hausnotrufdienstes als Fahrer eingesetzt war. Die Tätigkeit des Bereitschaftsfahrers in der Hausnotruf-Bereitschaft war unverzichtbarer Bestandteil des ihm im Arbeitsvertrag übertragenen Arbeitsauftrags und gab daher seiner Tätigkeit das Gepräge.
Ob Tätigkeiten das für die Eingruppierung erforderliche Gepräge aufweisen, wird nicht durch das zeitliche Ausmaß der Tätigkeit bestimmt, sondern beruht allein darauf, dass die Tätigkeit unverzichtbarer Bestandteil des Arbeitsauftrags ist.
Nach § 3 des Arbeitsvertrags setzte sich die dem Bereitschaftsfahrer übertragene Arbeitsaufgabe aus der Beschäftigung als „Fahrer BFD“ und dem Einsatz in der Hausnotruf-Bereitschaft zusammen. Damit gehörte die Tätigkeit „Hausnotruf-Bereitschaft“ zu seinem Arbeitsauftrag. Sie kann bezogen auf die ihm übertragene Aufgabe in ihrer Gesamtheit nicht hinweggedacht werden und war deshalb ihr unverzichtbarer Bestandteil.
Für die Zuordnung zu einer Entgeltgruppe kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß der Bereitschaftsfahrer aufgrund ausgelöster Notrufe zu aktiven Einsätzen herangezogen wurde. Der Umfang der Einteilung zur Hausnotruf-Bereitschaft war ausreichend, um als prägend zu gelten.
Dem Bereitschaftsfahrer steht für die in der Zeit vom 1. Januar 2016 bis zum 30. September 2016 geleisteten Hausnotruf-Bereitschaften ein Anspruch auf Bereitschaftsdienstentgelt in rechnerisch unstreitiger Höhe zu.
Ein Freizeitausgleich kommt schon wegen der zwischenzeitlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr in Betracht. Die vom Bereitschaftsfahrer geleisteten Dienste sind daher als Bereitschaftsdienste zu vergüten.
Mit der Leistung von Bereitschaftsdienst ist eine Aufenthaltsbeschränkung verbunden, sowie die Verpflichtung, bei Bedarf sofort tätig zu werden. Bei Rufbereitschaft muss der Mitarbeiter hingegen nur seinen frei bestimmbaren Aufenthaltsort anzeigen um auf Abruf die Arbeit innerhalb eines angemessenen Zeitraums aufzunehmen.
Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst unterscheiden sich letztlich dadurch, dass der Dienstgeber beim Bereitschaftsdienst den Aufenthaltsort des Mitarbeiters bestimmt, wohingegen dieser vom Mitarbeiter bei der Rufbereitschaft grundsätzlich selbst gewählt werden kann. Ob Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft im Sinne der Arbeitsvertragsrichtlinien der Johanniter vorliegt, hängt danach allein vom Umfang der vom Dienstgeber angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen ab.
Gibt der Dienstgeber die Zeit zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme genau vor und bemisst die Zeitspanne dabei so kurz, dass diese einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkommt, wird die örtliche Beschränkung lediglich durch den Faktor Zeit ersetzt. Der Dienstgeber ordnet in diesem Falle konkludent Bereitschaftsdienst an.
Die Arbeitgeberin hat den Aufenthaltsort des Bereitschaftsfahrers zwar nicht ausdrücklich festgelegt. Die mit der Anordnung von Hausnotruf-Bereitschaft verbundenen Einschränkungen erreichten aber ein Ausmaß, das einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkam.
Der Bereitschaftsfahrer war wegen der Vorgabe, spätestens 35 Minuten nach Auftragserteilung beim Notrufenden eintreffen zu müssen, gezwungen, sich während der jeweils einwöchigen Hausnotruf-Bereitschaft in unmittelbarer Nähe zur Dienststelle aufzuhalten, um den angeordneten Zeitrahmen einhalten zu können. Dies folgt daraus, dass er in jedem Fall zunächst die in der Dienststelle verwahrten Schlüssel zu holen hatte und allein dieser Vorgang ca. fünf Minuten in Anspruch nahm. Da der Bereitschaftsfahrer – wie alle in der Hausnotruf-Bereitschaft eingesetzten Mitarbeiter – stets mit der maximalen Fahrtzeit zu rechnen hatte, war es ihm nicht möglich, persönliche Aktivitäten zu planen und durchzuführen, die mehr als wenige Minuten von seiner Dienststelle entfernt stattfanden.
Für die Einordnung der Hausnotruf-Bereitschaft kommt es auch nicht auf die vom Dienstgeber und der Mitarbeitervertretung gewählte Bezeichnung an. Maßgeblich ist allein die organisatorische Ausgestaltung des Dienstes.
Die Arbeitgeberin kann sich schließlich nicht darauf berufen, die Hausnotruf-Bereitschaft sei, sofern sie nicht Rufbereitschaft darstelle, allenfalls bereits mit dem Tabellenentgelt abgegoltene Arbeitsbereitschaft. Die Voraussetzungen der Arbeitsbereitschaft liegen hier nicht vor. Der Bereitschaftsfahrer musste bei den Hausnotruf-Bereitschaften seine Arbeit nicht von sich aus aufnehmen, sondern erst auf Anforderung durch die Hausnotrufzentrale tätig werden.