Abgeltung Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 01.03.2022, Aktenzeichen 9 AZR 353/21
Der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub sowie arbeits- bzw. tarifvertraglichen Ansprüchen auf Erholungsurlaub ein selbstständiger Anspruch.
Die Arbeitgeberin gewährte einem schwerbehinderten Mitarbeiter im Kalenderjahr 2016 insgesamt 26 Tage Urlaub, ohne eine Tilgungsbestimmung vorzunehmen. Vom September 2016 bis zum Juni 2017 war der Mitarbeiter krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Ab Juli 2017 war er aufgrund der Vorruhestandsvereinbarung bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. August 2020 freigestellt.
Der Mitarbeiter hat die Abgeltung von nicht gewährtem Urlaub für das Jahr 2016 verlangt. Mangels Tilgungsbestimmung der Arbeitgeberin bei der Urlaubsgewährung im Jahr 2016 finde die Auslegungsregelung des § 366 Absatz 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) Anwendung.
Dies habe zur Folge, dass mit der Gewährung von 26 Urlaubstagen nicht der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, sondern vorrangig der weniger geschützte Tarifurlaub erfüllt worden sei. Er verlangt deshalb eine Urlaubsabgeltung für die nicht gewährten Zusatzurlaubstage.
Der Mitarbeiter hat ursprünglich die Abgeltung von elf Arbeitstagen Urlaub verlangt, die sich aus sechs Tagen gesetzlichem Mindesturlaub und aus fünf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zusammengesetzt haben. Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich der Abgeltung des Zusatzurlaubs stattgegeben und sie im Übrigen mit der Begründung abgewiesen, der gesetzliche Mindesturlaub des Mitarbeiters (einschließlich des deckungsgleichen Tarifurlaubs) sei durch Urlaubsgewährung erfüllt worden. Der übergesetzliche Urlaub sei teilweise erfüllt worden und teilweise verfallen. Auf die Berufung der Arbeitgeberin hat das Landesarbeitsgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Mitarbeiter die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, die Revision ist unbegründet.
Gegenstand der Revision ist die Abgeltung von fünf Arbeitstagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen.
Bei Ansprüchen auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs, des Tarifurlaubs und Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen handelt es sich um verschiedene Streitgegenstände. Ihnen liegen eigenständige, auf unterschiedlichen Lebenssachverhalten beruhende Anspruchsvoraussetzungen zugrunde. Während der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub regelmäßig allein das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt, bestehen die Ansprüche auf Tarifurlaub und Zusatzurlaub nur, wenn weitere Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, wie etwa die Anwendbarkeit des Tarifvertrags bzw. das Bestehen einer Schwerbehinderung. Soweit sich gesetzlicher Mindesturlaub und Tarifurlaub überschneiden, ist eine Anspruchskonkurrenz gegeben.
Das Arbeitsgericht hat die Klage, soweit sie auf die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs gerichtet war, rechtkräftig abgewiesen. Hierüber kann das Bundesarbeitsgericht in der Revisionsinstanz nicht mehr entscheiden.
Danach liegt eine abschließende und rechtskräftige Entscheidung über die erstinstanzlich verlangte Abgeltung von sechs Arbeitstagen gesetzlichem Mindesturlaub einschließlich des deckungsgleichen Tarifurlaubs vor. In die Revision gelangt ist damit ausschließlich die Frage, ob dem Mitarbeiter ein Anspruch auf Abgeltung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen zusteht.
Der Mitarbeiter hat gegen die Arbeitgeberin keinen Anspruch aus § 7 Absatz 4 BUrlG (Bundesurlaubsgesetz), Nr. 3.4 MTV (Manteltarifvertrag) auf Abgeltung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen aus dem Kalenderjahr 2016.
Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass der Anspruch des Mitarbeiters auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen durch Erfüllung vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses vollständig erloschen ist. Mit der bezahlten Freistellung des Mitarbeiters von der Arbeitspflicht an 26 Tagen im Jahr 2016 hat die Arbeitgeberin zuerst die auch gesetzlich begründeten Urlaubsansprüche aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG und § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX aF (Sozialgesetzbuch alte Fassung) und erst dann den tarifvertraglichen Mehrurlaub teilweise getilgt.
Auf die Erfüllung von Erholungsurlaubsansprüchen eines Kalenderjahres, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, findet die Vorschrift des § 366 BGB Anwendung. Allerdings wird die Tilgungsreihenfolge durch den hypothetischen Parteiwillen ersetzt, dem zufolge gewährte Urlaubstage zunächst auf die gesetzlichen Urlaubsansprüche anzurechnen sind.
Das Bundesarbeitsgericht hält im Ergebnis daran fest, dass bei Fehlen einer Tilgungsbestimmung zunächst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende, nur arbeits- oder tarifvertraglich begründete Urlaubsansprüche erfüllt werden. Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 366 BGB ist die bisherige Rechtsprechung jedoch zu nuancieren und weiterzuentwickeln.
Bei der Erfüllung von Ansprüchen auf Erholungsurlaub aus demselben Urlaubsjahr, die auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhen, ist danach § 366 BGB nicht unmittelbar anzuwenden, weil zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und dem sich überschneidenden arbeits-bzw. tarifvertraglichem Mehrurlaub teilweise Anspruchskonkurrenz gegeben ist. Die Vorschrift bedarf aber einer entsprechenden Anwendung, soweit der Tarifurlaub eigenständigen Regelungen unterliegt und den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt.
Tarifvertragsparteien können Urlaubsansprüche, die den von Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Absatz 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln.
Soweit sie in ihren Bestimmungen zur Regelung des Erholungsurlaubs nicht zwischen gesetzlichen und tarifvertraglichen Urlaubsansprüchen differenzieren und bezogen auf den gesetzlichen Mindesturlaub ihren durch § 13 BUrlG eröffneten Gestaltungsspielraum überschreiten, unterliegen die einzelnen Bestandteile des einheitlichen Tarifurlaubs unterschiedlichen Regelungen. Im Hinblick auf den mit dem gesetzlichen Mindesturlaub deckungsgleichen Bestandteil sind die arbeits- bzw. tarifvertraglichen Bestimmungen nach § 13 BUrlG iVm. § 134 BGB unwirksam. Es gelten dann insoweit die unabdingbaren gesetzlichen Vorschriften. Für den, den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden, nur tarifvertraglich begründeten Bestandteil bleiben sie indes verbindlich.
Die Bestimmung der Tilgungsreihenfolge im Verhältnis des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen nach § 125 Absatz 1 Satz 1 SGB IX aF zu sonstigen Erholungsurlaubsansprüchen erfolgt dagegen in unmittelbarer Anwendung des § 366 BGB. Die Vorschrift gilt unmittelbar, wenn Urlaubsansprüche aus verschiedenen Zeitperioden oder unterschiedliche Urlaubsansprüche Gegenstand der Betrachtung sind.
Der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen ist gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub und arbeits- bzw. tarifvertraglichen Ansprüchen auf Erholungsurlaub ein selbstständiger Anspruch. Auf den Zusatzurlaub sind zwar die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden. Er tritt jedoch dem Urlaubsanspruch hinzu, den der Beschäftigte ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung beanspruchen kann.
Der Zusatzurlaub stockt damit sowohl den gesetzlichen Mindesturlaub als auch den übergesetzlichen Mehrurlaub auf.
Anders als bei einer arbeits- oder tarifvertraglichen Regelung, die hinsichtlich des Umfangs des Urlaubsanspruchs nicht zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubsansprüchen differenziert und dadurch beide Ansprüche – soweit sie sich überlappen – zu einem einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub verbindet, erhöht sich der dem Arbeitnehmer ohne Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung zustehende Gesamturlaub um den Zusatzurlaub. Eine auch nur teilweise Überschneidung des insoweit selbstständigen Anspruchs auf Zusatzurlaub mit sonstigen Urlaubsansprüchen ist damit rechtlich ausgeschlossen, es sei denn, der Arbeits- oder Tarifvertrag räumt dem schwerbehinderten Arbeitnehmer konstitutiv einen Anspruch auf Schwerbehindertenzusatzurlaub ein.
Die Regelung in Nr. 3.2 Absatz 1 MTV hat keine rechtsbegründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung. Sie beschreibt lediglich die bestehende Rechtslage, der zufolge schwerbehinderte Menschen im Sinne des SGB IX einen Anspruch auf den gesetzlichen Zusatzurlaub von fünf Arbeitstagen haben.
Bei der Erfüllung von Erholungsurlaubsansprüchen aus einem Kalenderjahr, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gesetzlichen Mindesturlaubs und zur Vermeidung systemwidriger Ergebnisse zu modifizieren.
Gewährt eine Arbeitgeberin Erholungsurlaub, ohne eine Tilgungserklärung vorzunehmen, werden zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche getilgt.
Nach diesen Grundsätzen ist aufgrund urlaubsrechtlicher Besonderheiten von den, aufgrund des Fehlens einer Tilgungsbestimmung, an sich maßgeblichen Verrechnungskriterien des § 366 Absatz 2 BGB zugunsten einer vorrangigen Erfüllung des gesetzlichen Urlaubs abzuweichen. Dies ist geboten, um anderenfalls eintretende systemwidrige und dem hypothetischen Parteiwillen widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Das Bundesurlaubsgesetz regelt den gesetzlichen Mindesturlaub und gestaltet diesen als unabdingbaren Anspruch aus. Der Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub ist als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union besonders geschützt und darf deshalb nur bei Vorliegen „besonderer Umstände“ erlöschen.
Zugleich beschreibt er das grundsätzlich nicht unterschreitbare Grunderholungsbedürfnis eines jeden Arbeitnehmers und stellt Mindestanforderungen für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung auf.
Aufgrund seiner sogenannten urlaubsrechtlichen Akzessorietät gilt Entsprechendes für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, der zusammen mit dem bezahlten Erholungsurlaub aus §§ 1, 3 Absatz 1 BUrlG den Mindesturlaub für diese Personengruppe bildet. Demgegenüber können die Tarifvertragsparteien den darüberhinausgehenden Urlaub frei regeln und ihn deshalb auch geringer absichern.
Ohne entsprechende Anpassung würde die Anwendung der Auslegungsregel des § 366 Absatz 2 BGB dazu führen, dass der übergesetzliche Teil eines Tarifurlaubs, der gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub unter geringeren Voraussetzungen erlischt, die geringere Sicherheit bietet und damit zuerst getilgt würde. Dies hätte zur Konsequenz, dass wie vorliegend ein schwerbehinderter Arbeitnehmer nicht seinen gesetzlichen Mindesturlaub erhalten hätte, obwohl ihm mit 26 Tagen Urlaub mehr als der gesetzliche Mindesturlaub und der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zusammen gewährt worden ist.
Dieses schwerlich nachvollziehbare Ergebnis widerspricht dem hypothetischen Parteiwillen, dass mit den ersten gewährten Urlaubstagen dem unabdingbaren Grunderholungsbedürfnis des Arbeitnehmers und den Mindestanforderungen an den Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung nachgekommen werden soll, bevor der durch Arbeits- oder Tarifvertrag zusätzlich eingeräumte Urlaub gewährt wird.
Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die streitgegenständlichen fünf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus dem Jahr 2016 durch Erfüllung erloschen sind.
Durch die bezahlte Freistellung von der Arbeit an 26 Tagen sind jedoch der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen und die dem Mitarbeiter zustehenden fünf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen vorrangig gegenüber dem tarifvertraglichen Mehrurlaub getilgt worden. Die Anwendungsvoraussetzungen des (modifizierten) § 366 Absatz 2 BGB liegen vor. Der tarifvertragliche Mehrurlaub unterliegt einem eigenständigen Regelungsregime.
Dem Wortlaut der Nr. 3.1 Absatz 1 MTV zufolge erhalten Beschäftigte in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage Urlaub. Der Urlaub verfällt nach Nr. 3.3 Absatz 1 MTV, wenn er nicht spätestens drei Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres genommen wird, es sei denn, er wurde erfolglos schriftlich geltend gemacht.
Abweichend von den gesetzlichen Voraussetzungen für die Befristung und den Verfall von Urlaub haben die Tarifvertragsparteien der Arbeitgeberin keine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten auferlegt, die denen des Bundesurlaubsgesetzes entsprechen.
Sie haben ausdrücklich bestimmt, dass ein Urlaubsanspruch, der nicht spätestens drei Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres gewährt wird, ohne Anspruch auf Geldentschädigung verfällt, wenn er nicht erfolglos schriftlich geltend gemacht wurde. Es obliegt danach nicht der Arbeitgeberin, sondern dem Arbeitnehmer, hinsichtlich des tarifvertraglichen Mehrurlaubsanspruchs initiativ zu werden.
Ebenfalls abweichend von den gesetzlichen Befristungsregelungen verfällt der Anspruch auf tarifvertraglichen Mehrurlaub gemäß Manteltarifvertrag spätestens zum 30. Juni des Folgejahres, wenn er wegen Arbeitsunfähigkeit nicht bis zum Ende des Urlaubsjahres genommen werden konnte. Gegenüber den gesetzlichen Urlaubsansprüchen verkürzt sich somit der für den gesetzlichen Mindesturlaub, sofern insoweit überhaupt ein Verfall möglich ist, maßgebliche Übertragungszeitraum von 15 Monaten.