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Körperreinigungs-, Umkleide- und Wegezeit kann vergütungspflichtige Arbeitszeit sein

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 23.04.2024, Aktenzeichen 5 AZR 212/23

Leitsatz:

Körperreinigungszeiten gehören zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn sich der Arbeitnehmer bei seiner geschuldeten Arbeitsleistung so sehr verschmutzt, dass ihm ein Anlegen der Privatkleidung, das Verlassen des Betriebs und der Weg nach Hause ohne eine vorherige Reinigung des Körpers im Betrieb nicht zugemutet werden kann. (amtl. Leitsatz)

Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG:

1. Körperreinigungszeiten sind als vergütungspflichtige Arbeitszeit anzusehen, wenn sie mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängen und deshalb ausschließlich der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dienen. Öffentlich-rechtliche und arbeitsschutzrechtliche Vorschriften können für die Abgrenzung und Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls Orientierungshilfen bieten (Rn. 25 ff.).

2. Hat der Arbeitnehmer zur Erforderlichkeit von Umkleidezeiten dargelegt, welche Kleidungsstücke er an- und abzulegen hat und wie viel Zeit er jeweils für den Umkleidevorgang benötigt, handelt das Gericht ermessensfehlerhaft, wenn es anstatt den angebotenen Beweis zu erheben, unmittelbar eine Schätzung vornimmt (Rn. 51).

3. Gegen eine Schätzung der Umkleidezeit im „Selbstversuch“ durch den Kammervorsitzenden des Arbeitsgerichts/Landesarbeitsgerichts außerhalb der mündlichen Verhandlung bestehen grundsätzliche Bedenken, wenn der Umkleidevorgang nicht nach § 357 Absatz 1 ZPO parteiöffentlich erfolgt und die Parteien damit keine Möglichkeit haben, den Selbstversuch zu beobachten und zu den Ausgangsbedingungen Stellung zu nehmen (Rn. 53).

Sachverhalt:

Die Parteien streiten über Vergütung für Umkleide-, Körperreinigungs- und Wegezeiten.

Der Kläger ist seit Februar 2008 als Vollzeit-Containermechaniker bei der Beklagten beschäftigt. Der Arbeitsvertrag vom 1. Februar 2009 legt gemäß § 2 fest, dass die aktuellen Tarifverträge für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte im Speditions-, Transport- und Logistiksektor in Bayern auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden, insbesondere der Manteltarifvertrag für diese Beschäftigten in der Fassung vom 8. Dezember 2014, der seit dem 1. Oktober 2014 gültig ist (MTV). Darüber hinaus existiert eine Gesamtbetriebsvereinbarung mit dem Titel „Allgemeine Arbeitsordnung“ vom 22. Januar 2008 (GBV). Laut Nr. 5 dieser Vereinbarung richtet sich die Arbeitszeit nach den gesetzlichen, tariflichen und einzelvertraglichen Regelungen sowie den Betriebsvereinbarungen, wobei die Mitarbeiter pünktlich zu dem festgelegten Arbeitsbeginn in Arbeitskleidung am Arbeitsplatz sein müssen. Zudem besteht eine Betriebsvereinbarung zur Regelung der Arbeitszeiten, die am 31. März 2004 getroffen wurde (BV). In Nr. 5 Abs. 7 dieser Vereinbarung wird festgelegt, dass die tägliche Arbeitszeit mit dem Abschluss der jeweils zugewiesenen Aufgaben oder der entsprechenden Anweisung des Vorgesetzten endet.

Der Arbeitstag des Klägers verläuft folgendermaßen: Nach dem Betreten des Betriebsgeländes geht er zu dem Gebäude, das den Umkleideraum mit Duschen, das Zeiterfassungsterminal und seinen Arbeitsplatz beherbergt. Im ersten Stock zieht er die von der Beklagten bereitgestellte Arbeitskleidung an und verstaut seine private Kleidung im Spind. Anschließend begibt er sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo sich das Zeiterfassungsterminal nur wenige Meter entfernt befindet. Dort loggt er sich ein und gibt die von der Beklagten festgelegte Uhrzeit für den Schichtbeginn ein. Danach geht er zu seinem Arbeitsplatz, der 30 bis 40 Meter entfernt ist, und beginnt mit seiner Tätigkeit, die laut den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts das „In-Ordnung-Bringen“ von Containern beinhaltet, die auf Wechselbrücken geladen werden. Dies umfasst gegebenenfalls das Abschleifen von rostigen und beschädigten Stellen sowie die entsprechende Nachlackierung. Bei diesen Arbeiten kann der Kläger die von der Beklagten zur Verfügung gestellten Handschuhe, Schutzbrille und Atemmaske tragen. Nach Beendigung der Arbeit kehrt er in den Umkleideraum zurück, um sich zu waschen oder zu duschen. Die verunreinigte Arbeitskleidung lässt er gemäß der Anweisung der Beklagten im Betrieb zur Reinigung. Anschließend geht er erneut zum Zeiterfassungsterminal und gibt ordnungsgemäß die von der Beklagten vorgeschriebene Uhrzeit für das Ende der Schicht ein, bevor er den Betrieb verlässt.

In seiner Klage hat der Kläger zunächst für den Zeitraum von Januar 2017 bis August 2020 die Zahlung von Vergütung für Umkleide-, Körperreinigungs- und Wegezeiten in Höhe von 18.242,56 Euro brutto gefordert. Nach mehreren Erweiterungen der Klage hat er in der letzten Instanz vor dem Gericht die Zahlung von Vergütung für den Zeitraum von Januar 2017 bis April 2022 in Höhe von 25.554,45 Euro brutto beantragt, basierend auf einem zusätzlichen zu vergütenden Arbeitszeitvolumen von täglich 55 Minuten. Zudem verlangt er die Feststellung der Vergütungsverpflichtung der Beklagten für die Zukunft.

Die Beklagte hat die Klageabweisung beantragt.

das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt, dass eine Vergütung Für umkleide –, Körperreinigung – und Wegezeiten gemäß § 611 Abs. 2 BGB, dem Grunde nach in Betracht kommt. Dabei stellt es fest, dass die innerbetrieblichen Umkleidezeiten vergütungspflichtige Arbeitszeiten sind.

Zu den im Dienst eines anderen erbrachten Arbeitsleistungen gemäß § 611a Abs. 1 BGB zählt nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern auch alle anderen vom Arbeitgeber geforderten Maßnahmen oder Tätigkeiten, die in einem direkten Zusammenhang mit der Haupttätigkeit oder deren Durchführung stehen. Der Arbeitgeber verpflichtet sich zur Vergütung aller Leistungen, die er dem Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglich gegebenen Weisungsrechts abverlangt. Der Begriff „Arbeit“ im Sinne dieser Vorschriften umfasst jede Tätigkeit, die der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 – 5 AZR 270/20 – Ra. 14).

Vergütungspflichtige Arbeitszeit liegt in der Regel beim An- und Ablegen von Dienstkleidung vor, die vom Arbeitgeber vorgeschrieben und nur im Betrieb getragen werden darf. Der Zeitaufwand für das An- und Ablegen der Dienstkleidung im Betrieb ist auf die Anweisung des Arbeitgebers zurückzuführen, die das Tragen der Dienstkleidung vorschreibt. In diesem Fall erfolgt das Umkleiden ausschließlich zum Nutzen des Arbeitgebers. Daher ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Zeit, die der Arbeitnehmer hierfür im Betrieb aufwendet, zu vergüten (vgl. BAG, Urteil vom 13. Oktober 2021 – 5 AZR 270/20 – Rn. 19; und vom 15. Juli 2021 – 6 AZR 207/20 – Rn. 31).

Nach diesen Grundsätzen zählt die für das An- und Ablegen der von der Beklagten dem Kläger zur Verfügung gestellten Dienstkleidung erforderliche Zeit zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. Die Beklagte stellt den Containermechanikern Schutzkleidung zur Verfügung, die während der Arbeit getragen und nach Beendigung der Arbeit zur Reinigung zurückgegeben werden muss. Vor Beginn der Arbeitszeit ist es erforderlich, dass der Kläger den Umkleideraum aufsucht, sich die bereitgestellte Arbeitskleidung nimmt und anzieht, bevor er zu seinem Arbeitsplatz geht. Am Ende des Arbeitstags muss er erneut den Umkleideraum aufsuchen, die Arbeitskleidung ausziehen und zur Reinigung abgeben. Dieses Umkleiden erfolgt ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers, und die dafür benötigten Zeiten sind von der Beklagten zu vergüten.

Die Wegezeit des Klägers vom Umkleideraum zu seinem Arbeitsplatz und zurück zählt zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, die von der Beklagten geschuldet wird (vgl. BAG, Urteil vom 6. September 2017 – 5 AZR 382/16 – Rn. 13, BAGE 160, 167; und vom 26. Oktober 2016 – 5 AZR 168/16 – Rn. 12, BAGE 157, 116). Der Zeitaufwand für das An- und Ablegen der Arbeitskleidung sowie der dafür erforderliche Gang zum Umkleideraum resultieren aus der Anweisung der Beklagten, die Dienstkleidung während der Arbeitszeit zu tragen. Der Kläger hat nicht die Möglichkeit, die Arbeitskleidung direkt am Arbeitsplatz anzulegen oder abzulegen; er ist gezwungen, den räumlich getrennten Umkleideraum aufzusuchen. Somit ist der Weg, den der Kläger vom Umkleideraum zu seinem Arbeitsplatz und zurücklegt, ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers.

Nach § 611a Abs. 2 BGB können auch Körperreinigungszeiten vergütungspflichtige Arbeitszeiten darstellen.

Ob Körperreinigungszeiten gemäß § 611a Abs. 2 BGB als vergütungspflichtige Arbeitszeit gelten, ist bisher höchstrichterlich nicht entschieden worden. Der Senat hatte zwar bereits im Fall eines „Fahrers/Müllwerkers“, der der Entscheidung vom 11. Oktober 2000 (- 5 AZR 122/99 – BAGE 96, 54) zugrunde lag, angenommen, dass neben dem Umkleiden auch das „Waschen“ nach Ende der Tätigkeit als fremdnützig und somit als „Arbeit“ zu betrachten ist. Allerdings wurde aufgrund der fehlenden Vergütungserwartung gemäß § 612 Abs. 1 BGB eine Vergütungspflicht des Arbeitgebers verneint (vgl. BAG, Urteil vom 11. Oktober 2000 – 5 AZR 122/99 – zu IV 4 der Gründe, aaO). Diese Rechtsprechung hat der Senat im Jahr 2012 für Umkleidezeiten ausdrücklich aufgegeben und entschieden, dass auch das vom Arbeitgeber angeordnete Umkleiden im Betrieb zu den im Sinne von § 611 Abs. 1 BGB „versprochenen Diensten“ zählt (vgl. BAG, Urteil vom 19. September 2012 – 5 AZR 678/11 – Rn. 28, BAGE 143, 107).

Die Vergütungspflicht für Körperreinigungszeiten erfordert eine differenzierte Betrachtung. Dabei sind die allgemeinen Kriterien zu berücksichtigen, die die Rechtsprechung für Umkleidezeiten entwickelt hat (vgl. BAG, Urteil vom 25. April 2018 – 5 AZR 245/17 – Rn. 22; sowie vom 17. November 2015 – 1 ABR 76/13 – Rn. 25, BAGE 153, 225). Körperreinigungszeiten können als Arbeitszeit gewertet werden, wenn sie unmittelbar mit der eigentlichen Tätigkeit oder deren Durchführung in Zusammenhang stehen und daher ausschließlich der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dienen (vgl. BAG, Urteil vom 11. Oktober 2000 – 5 AZR 122/99 – zu IV 3 d der Gründe, BAGE 96, 54).

Ein unmittelbarer Zusammenhang mit der eigentlichen Arbeitsleistung ist gegeben, wenn die Körperreinigung vom Arbeitgeber ausdrücklich angeordnet wird oder wenn zwingende arbeitsschutzrechtliche Hygienevorschriften dies erforderlich machen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Arbeitnehmer bei seiner Arbeit mit gesundheitsgefährdenden Stoffen oder verschmutzten Gegenständen in Kontakt kommt (vgl. BAG, Urteil vom 11. Oktober 2000 – 5 AZR 122/99 – zu IV 3 d der Gründe, BAGE 96, 45; Fink Anmerkung NZA-RR 2024, 10, 17; Franzen NZA 2016, 136, 139; MHdB ArbR/Koberski, 5. Aufl. Bd. 2 § 182 Rn. 19).

Körperreinigungszeiten zählen jedoch auch dann zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn der Arbeitnehmer bei seiner geschuldeten Arbeit so stark verschmutzt, dass ihm das Anlegen seiner Privatkleidung, das Verlassen des Betriebs und der Weg nach Hause – sei es mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem eigenen Fahrzeug – ohne vorherige Reinigung seines Körpers im Betrieb nicht zuzumutbar ist (vgl. BAG, Urteil vom 11. Oktober 2000 – 5 AZR 122/99 – zu IV 3 d der Gründe, BAGE 96, 45). Dabei ist regelmäßig nach Art und Umfang der ausgeübten Tätigkeit, der getragenen Arbeitskleidung und dem Ausmaß der Verschmutzung zu differenzieren, um die erforderliche Art und Dauer der Körperreinigung zu bestimmen. Eine Ganzkörperreinigung (Duschen) gehört nur dann zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der eigentlichen Tätigkeit und deren Durchführung steht. Dies ist der Fall, wenn die Ausübung der Arbeitsleistung ohne ein anschließendes Duschen nicht möglich erscheint und der gesamte Ablauf – Arbeiten und Duschen – somit als fremdnützig betrachtet werden kann. Nicht jede im Verlauf eines Arbeitstags auftretende Verschmutzung oder Verunreinigung „erfordert“ in diesem Sinne ein Duschen, das in direktem Zusammenhang mit den vom Arbeitgeber zugewiesenen Tätigkeiten steht. Das Waschen, das notwendig ist, um die alltäglichen Verunreinigungen sowie Schweiß- und Körpergerüche zu beseitigen, dient der Befriedigung privater Bedürfnisse; es ist nicht ausschließlich fremdnützig und damit nicht vergütungspflichtig (vgl. Fink Anmerkung NZA-RR 2024, 10, 17; Franzen NZA 2016, 136, 139; Giese BB 2015, 2432).

Wie sich dieser Punkt hier im Einzelfall verhält, konnte durch das Gericht nicht geklärt werden.