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Arbeitnehmer muss erforderlichen Vortrag zu seiner Erkrankung im Verfahren erbringen, wenn Arbeitgeber den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch Tatsachenvortrag und Beweis erschüttert

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 30.07.2024, Aktenzeichen 10 Sa 699/23

Leitsätze: 

1.

Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.

2.
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSv. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre. Der Arbeitgeber ist nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich auch aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben.

3.
Ein gegen den Beweiswert sprechender Umstand kann darin liegen, dass zwischen der durch Folgebescheinigungen festgestellten Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz besteht.

 4.
Bei der Bewertung der Umstände des Einzelfalls dürfen an den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, weil er nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfügt. Der Arbeitgeber muss nicht Tatsachen darlegen, die den Beweis des Gegenteils begründen können.

Sachverhalt:

Die Parteien streiten um die Zahlung von Entgeltfortzahlung.

Der Kläger kündigte am 30. März 2023 sein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 30. Juni 2023. In den Monaten April und Mai 2023 nahm er an sieben Tagen bezahlte Freizeit für die Stellensuche in Anspruch, jeweils für einen halben oder ganzen Arbeitstag. Am 7. Mai 2023 informierte die Beklagte den Kläger, dass sie die Anzahl der Freistellungen als nicht mehr angemessen erachtete, da seine Arbeitskraft benötigt werde. Der Kläger antwortete, dass er seine Rechte einklagen werde, falls ihm keine weiteren Freistellungen gewährt würden. Am 30. Mai 2023 meldete er sich arbeitsunfähig. Die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung deckte den Zeitraum vom 30. Mai bis 16. Juni ab, während die Folgebescheinigung den Zeitraum vom 16. bis 30. Juni 2023 umfasste. Am 23. Juni 2023 erhielt der Kläger von der Beklagten eine Lohnabrechnung für den Monat Juni 2023 in Höhe von 2.750,00 Euro brutto, die jedoch ohne Kenntnis der Krankmeldung erstellt wurde. Auf Nachfrage im Juli 2023 teilte die Personalsachbearbeiterin dem Kläger mit, dass es im Lohnbüro einen Fehler gegeben habe und die Zahlung schnellstmöglich nachgeholt werde. Dies geschah jedoch nicht.

Der Kläger ist der Ansicht, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht erschüttert sei. Da das Arbeitsverhältnis am 30. Juni 2023 endete, seien keine weiteren Bescheinigungen erforderlich gewesen.

Er beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihm 2.750,00 Euro brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 1. Juli 2023 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen, und führt aus, dass den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kein Beweiswert zukomme. Die erste Bescheinigung sei für einen Zeitraum von mehr als 14 Tagen ausgestellt worden, was gegen die Richtlinien zur Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit verstoße. Zudem sei sie von einem Diabetologen ausgestellt worden, obwohl nicht bekannt sei, dass der Kläger an Diabetes leide. Auch die Gesamtschau der Umstände, insbesondere der Konflikt bezüglich der Freistellungen und der Zeitpunkt der letzten Bescheinigung, deute darauf hin, dass es sich um ein Gefälligkeitsattest handle. Der Kläger habe sich wohl krankschreiben lassen, nachdem die Beklagte ihm mitgeteilt hatte, ihn nicht mehr freistellen zu wollen. Die Beklagte habe die Forderung zudem nicht anerkannt.

Das Arbeitsgericht gab der Klage statt und begründete dies damit, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht erschüttert sei. Es spiele keine Rolle, dass die Bescheinigung von einem Diabetologen ausgestellt wurde, und auch die Überschreitung des 14-tägigen Zeitraums gemäß der Richtlinie beeinträchtige den Beweiswert nicht. Der Kläger habe nach dem Gespräch vor der ersten Krankschreibung noch drei Wochen gearbeitet, was den Streit um die Freistellungen unerheblich mache.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts, das der Beklagten am 11. Oktober 2023 zugestellt wurde, legte die Beklagte am 1. November 2023 Berufung ein und begründete diese am 6. Dezember 2023.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts abzuändern und die Klage abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Berufung unter Klagrücknahme im Übrigen zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, ihm 2.750,00 Euro brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Juli 2023 abzüglich der auf die Krankenkasse übergegangenen Ansprüche in Höhe von 1.212,30 Euro netto zu zahlen.

Entscheidungsgründe:

Die von der Beklagten insgesamt zulässig und begründet eingelegte Berufung ist erfolgreich.

Das Landesarbeitsgericht sieht für den Kläger keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den streitgegenständlichen Zeitraum, da der Beweiswert der von ihm eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert ist und er keine weiteren Angaben zu den Ursachen seiner Erkrankung gemacht hat. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Dauer von bis zu sechs Wochen, sofern er aufgrund einer Krankheit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert ist, ohne dass ihm ein Verschulden vorliegt. Der Arbeitnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG.

In der Regel wird der Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG erbracht. Diese Bescheinigung stellt das gesetzlich vorgesehene und entscheidende Beweismittel für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit dar. Der Beweiswert einer ordnungsgemäß ausgestellten Bescheinigung ist aufgrund der Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes hoch. Der Arbeitgeber kann diesen Beweiswert nur erschüttern, indem er Tatsachen vorträgt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen, sodass der Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt (BAG 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22 – Rn. 12; 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 12 mwN, BAGE 175, 358).

Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung für das Vorliegen einer tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 292 ZPO, sodass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre (BAG 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 13 mwN). Der Arbeitgeber ist nicht auf die Regelbeispiele in § 275 Abs. 1a SGB V beschränkt. Tatsachen, die den Beweiswert erschüttern, können sich auch aus dem Sachvortrag des Arbeitnehmers oder der Bescheinigung selbst ergeben (BAG 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 13; 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 13, BAGE 175, 358). Ein Umstand, der den Beweiswert beeinträchtigen kann, ist beispielsweise eine zeitliche Koinzidenz zwischen der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist (vgl. BAG 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 26; 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 20, BAGE 175, 358).

Bei der Bewertung der individuellen Umstände ist zu berücksichtigen, dass an den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts der Bescheinigung keine übermäßigen Anforderungen gestellt werden dürfen, da ihm nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, Tatsachen darzulegen, die den Beweis des Gegenteils begründen könnten (BAG 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Rn. 18, 27; 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 20, BAGE 175, 358).

Wenn es dem Arbeitgeber gelingt, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, kehrt die Darlegungs- und Beweislast zu dem Zustand zurück, der vor der Vorlage der Bescheinigung bestand. Der Arbeitnehmer muss dann konkrete Tatsachen darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist eine substantiierte Schilderung erforderlich, die beschreibt, welche Krankheiten vorlagen, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden und welche Behandlungsmaßnahmen oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest in groben Zügen darstellen, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit vorlagen (BAG 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 – Rn. 15, BAGE 175, 358).

Vor diesem Hintergrund war der Beweiswert der vom Kläger vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert, was dazu führt, dass er den erforderlichen Vortrag zu seiner Erkrankung hätte erbringen müssen. Da dies nicht geschehen ist, besteht kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Ein Anerkenntnis dieser Forderung durch die Beklagte ist ebenfalls nicht gegeben.

Die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gilt für einen Zeitraum von 17 Tagen und überschreitet damit den maximalen Zeitraum von zwei Wochen, der gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vorgesehen ist. Dieser Umstand ist geeignet, den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern.

Des Weiteren ist zu beachten, dass die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit genau am Tag des Endes des Arbeitsverhältnisses endete. Dem zulässigerweise mit Nichtwissen (§ 138 Abs. 4 ZPO) vorgetragenen Argument der Beklagten, dass der Kläger im Juli 2023 ohne weitere Erkrankung ein neues Arbeitsverhältnis aufgenommen habe, tritt der Kläger nicht entgegen und vertritt lediglich die Auffassung, er sei hierzu nicht verpflichtet. Daher gilt das Vorbringen der Beklagten gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass der Krankmeldung des Klägers ein Konflikt zwischen den Parteien über den Umfang der nach § 629 BGB zu gewährenden Freizeit vorausgegangen war. Auch wenn das Streitgespräch darüber am ersten Tag der angeblichen Arbeitsunfähigkeit etwa drei Wochen zurücklag, ist es in Anbetracht der bereits genannten Indizien geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu erschüttern.

Dies gilt umso mehr, als eine sofortige Krankmeldung nach dem Gespräch vom 7. Mai 2023 sowohl auffälliger gewesen wäre als auch nicht dazu geführt hätte, dass der Kläger bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses Entgeltfortzahlung hätte erhalten können, da die maximale Bezugsdauer von sechs Wochen überschritten worden wäre. Der Umstand, dass der Kläger für einen Monat und nicht für die zulässigen sechs Wochen krankgeschrieben war, steht der Erschütterung des Beweiswerts nicht entgegen.

Dem angefochtenen Urteil ist zuzustimmen, dass aus dem Verhalten der Beklagten kein Anerkenntnis der streitigen Forderung abgeleitet werden kann. In diesem Punkt folgt das Berufungsgericht den Ausführungen der angefochtenen Entscheidung zu 1.c) und stellt dies ausdrücklich fest, wobei gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf diese Gründe verwiesen wird.