Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 07.08.2024, Aktenzeichen 8 Sa 129/23
Leitsätze:
- Eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründet Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit. Geringe Abweichungen in den Daten reichen nicht aus, um diese zu beseitigen.
- Neben der zeitlichen Koinzidenz sind keine weiteren Umstände erforderlich, die Zweifel zu rechtfertigen.
- im Falle der Erschütterung des Beweiswerts trägt der Kläger (wieder) die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung eines Entgeltfortzahlungsanspruchs nach § 3 Abs. 1 EFZG.
Die Parteien streiten um die Entgeltfortzahlung für den Monat Juli 2022 sowie um die Urlaubsabgeltung aus einem beendeten Arbeitsverhältnis. Die Beklagte betreibt ein Transportunternehmen. Der Kläger, geboren im Jahr 1968, war vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Juli 2022 als Lkw-Fahrer in Vollzeit beschäftigt und erhielt einen Bruttomonatslohn von 2.100 Euro. Für die Einzelheiten der arbeitsvertraglichen Regelungen wird auf den am 30. November 2019 geschlossenen Arbeitsvertrag verwiesen, der dem Gericht vorgelegt wurde. Dieser Vertrag sieht einen jährlichen Erholungsurlaub von 24 Tagen vor.
Die Kündigung des Klägers datiert vom 29. Juni 2022 und wurde der Beklagten im Original am 4. Juli 2022 zugestellt. Am selben Tag erhielt die Beklagte auch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Klägers, die für den Zeitraum vom 30. Juni bis zum 1. August 2022 ausgestellt wurde. Laut dieser Bescheinigung bestätigte die Zeugin L eine „Anpassungsstörung“ (ICD-10 Code F43.2) sowie eine „mittelgradige depressive Episode“ (ICD-10 Code F32.1).
Die Beklagte hat dem Kläger weder eine Abrechnung für Juli 2022 zukommen lassen noch Zahlungen für diesen Monat geleistet. Auch eine Urlaubsabgeltung wurde bislang nicht gezahlt. Der Kläger fordert nun die Entgeltfortzahlung für Juli 2022 sowie die Urlaubsabgeltung für insgesamt 20 Tage aus dem Jahr 2022, wobei er vier Urlaubstage aus dem Jahr 2021 auf das Jahr 2022 anrechnen lässt.
Vor dem Arbeitsgericht hat der Kläger zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihm einen Betrag von 4.032,81 Euro brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. August 2022 zu zahlen. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte war der Auffassung, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beeinträchtigt sei, da sich die Kündigungsfrist mit dem Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit überschneide. Zudem argumentierte sie, dass lediglich 16 Tage Urlaub abzugelten seien. Das Arbeitsgericht gab der Klage jedoch mit Urteil vom 27. Januar 2023 statt und führte im Wesentlichen aus, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund der spezifischen Umstände des Einzelfalls nicht erschüttert sei. Der Urlaubsanspruch für das Jahr 2022 sei nicht erfüllt worden und müsse daher abgegolten werden.
Gegen das am 14. Februar 2023 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 7. März 2023 Berufung ein. Trotz ordnungsgemäßer Ladung erschien der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am 6. Juni 2024 nicht vor dem Landesarbeitsgericht Köln zur mündlichen Verhandlung in der Berufungssache.
Das Gericht erließ daraufhin ein Versäumnisurteil und wies die Berufung zurück. Gegen dieses Versäumnisurteil, das am 20. Juni 2024 zugestellt wurde, legte die Beklagte am 21. Juni 2024 Einspruch ein.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung war nicht begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für den Monat Juli 2022 in Höhe von 2.100 EUR brutto gemäß §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 EFZG. Er war im Juli 2022 aufgrund von Arbeitsunfähigkeit an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG hat der Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit bis zu sechs Wochen, sofern er ohne eigenes Verschulden infolge Krankheit arbeitsunfähig ist. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG und somit auch für seine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit.
Der Nachweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit erfolgt in der Regel durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG. Eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stellt das gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweismittel für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit dar. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG genügt die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung hat auch Auswirkungen auf die beweisrechtliche Würdigung.
Der Kläger konnte den Nachweis seiner Arbeitsunfähigkeit in diesem Fall nicht durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 30. Juni 2022 führen. Der Beweiswert dieser Bescheinigung ist hier – anders als vom Arbeitsgericht angenommen – aufgrund der tatsächlichen Umstände erschüttert worden. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch in Frage stellen, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers aufwerfen; dies führt dazu, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt.
Da die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung oder Beweislastumkehr zur Folge hat, dürfen an den Vortrag des Arbeitgebers, der den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern möchte, keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, wie bei einer gesetzlichen Vermutung Tatsachen darzulegen, die dem Beweis des Gegenteils zugänglich sind.
Im vorliegenden Fall sieht die Berufungskammer Umstände gegeben, die unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Frage stellen. Der Beweiswert kann insbesondere dann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar im Zusammenhang mit seiner Kündigung erkrankt und es Anhaltspunkte gibt, die Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit aufwerfen. Dies wird durch die zeitliche Übereinstimmung zwischen der Kündigungsfrist und der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit unterstützt. Die ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ergeben sich daraus, dass der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt arbeitsunfähig wird, als bereits feststeht, dass das Arbeitsverhältnis enden soll und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig bleibt.
Im konkreten Fall stammt die Eigenkündigung des Klägers vom 29. Juni 2022 und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde am 30. Juni 2022 ausgestellt; zudem endeten Kündigungsfrist und bescheinigte Arbeitsunfähigkeit nahezu gleichzeitig. Diese Umstände begründen ernsthafte Zweifel, die auch durch weitere vom Arbeitsgericht angeführte Aspekte nicht entkräftet werden können. Die geringen Abweichungen in den Daten (29. bzw. 30. Juni; 31. Juli bzw. 1. August) sind hierfür nicht ausreichend. Der Kläger kündigte am 29. Juni 2022 und erhielt am folgenden Tag eine Krankschreibung für den Rest seines Arbeitsverhältnisses. Auch das Verhalten des Klägers vor der Kündigung spricht eher für die Annahme von Zweifeln an seiner Arbeitsunfähigkeit.
Der Kläger hat jedoch seine Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen. Im Falle einer Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung trägt der Kläger erneut die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für einen Entgeltfortzahlungsanspruch gemäß § 3 Abs. 1 EFZG. Er muss konkrete Tatsachen darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die auf eine Erkrankung während des streitgegenständlichen Zeitraums schließen lassen. Dies ist dem Kläger in diesem Fall gelungen.
Die Kammer ist aufgrund der Beweisaufnahme (§ 286 ZPO) überzeugt davon, dass der Kläger im relevanten Zeitraum aufgrund einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig war. Die Zeugin L., eine erfahrene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, stellte am 30. Juni 2022 bei dem Kläger eine Anpassungsstörung fest und erklärte nachvollziehbar, dass Patienten mit dieser Störung unter externen Belastungen leiden können. Dies steht im Einklang mit den Angaben des Klägers in der Kammerverhandlung über Schlafstörungen und starke Kopfschmerzen infolge eines Konflikts am Arbeitsplatz.
Die Zeugin konnte aus ihren Aufzeichnungen entnehmen, dass der Kläger während seiner Untersuchungen von Ängsten und Konzentrationsstörungen berichtete; insbesondere Konzentrationsstörungen können zu Fehlern führen und nach Angaben der Zeugin eine Abwärtsspirale verursachen, weshalb in solchen Fällen häufig Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt werden müssen – besonders relevant für einen Kraftfahrer aufgrund möglicher Gefahren im Straßenverkehr.
Obwohl die Zeugin angab, sich nicht konkret an die Untersuchung zu erinnern, basierte ihre Einschätzung auch auf ihren Aufzeichnungen und ihrer Erfahrung mit dem Kläger seit dessen Behandlung im Jahr 2015 sowie zuletzt im Jahr 2019 wegen ähnlicher Diagnosen.
Die Bescheinigung über einen Monat – deckend mit der Kündigungsfrist – konnte sie ebenfalls nachvollziehbar erklären; eine Krankschreibung von einem Monat sei im Bereich psychischer Erkrankungen üblich und nicht außergewöhnlich wie in anderen Fachrichtungen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gleichzeitige Dauer von Kündigungsfrist und Krankschreibung unter diesen Umständen nachvollziehbar ist und nicht gegen die Arbeitsunfähigkeit des Klägers spricht.
Der Kläger hat gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG einen Anspruch auf Urlaubsabgeltung für 20 Tage aus dem Jahr 2022 in Höhe von 1.932,81 EUR brutto. Das Arbeitsgericht hat der Klage in diesem Punkt mit zutreffender Begründung stattgegeben, die von der Beklagten nicht angefochten wird. Soweit die Beklagte im Rahmen der Berufung erstmals vorbringt, dass der Kläger im Jahr 2021 insgesamt 38 Urlaubstage erhalten habe und davon 14 auf das Jahr 2022 angerechnet werden sollten, sodass nur noch 6 Tage Urlaub verbleiben würden, ist dieser Einwand unerheblich. Urlaub kann nicht im Voraus gewährt werden. Eine Inanspruchnahme außerhalb des Urlaubsjahres ist, mit Ausnahme des gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG zulässig übertragenen Urlaubs, ausgeschlossen; das Urlaubsjahr entspricht dem Kalenderjahr. Eine Gewährung von Urlaub im Vorgriff auf das nächste Urlaubsjahr ist ebenso unzulässig wie die Anrechnung von zu viel gewährter Freizeit des Vorjahres auf den Urlaubsanspruch des folgenden Jahres. Dies ist grundsätzlich auch mit Zustimmung des Arbeitnehmers nicht möglich, da es gegen den Grundsatz der Unabdingbarkeit des Urlaubs verstößt. Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich darauf hingewiesen.