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Ohne Abmahnung keine Kündigung

Kündigung ohne Abmahnung nicht gerechtfertigt

Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 02.05.2013, Aktenzeichen 8 Sa 1611/12

Eine ausgesprochene Kündigung, die weder als Tatkündigung, noch als Verdachtskündigung angesehen werden kann, da ein dringender Verdacht nicht als ausschließliches Motiv unterstellbar ist, bleibt insbesondere dann ungültig, wenn es keine vorhergehende Abmahnung gegeben hat.

Einem Produktionshelfer, der in Akkordarbeit ausschließlich in der Frühschicht eingesetzt wurde, hielt seine Arbeitgeberin vor, bewusst durch falsche Angaben eine überhöhte Arbeitsvergütung zu erschleichen.

Zum Ende der Schicht bestückte der Produktionshelfer einen Frontenwagen nicht vollständig. In das Akkordbuch, in dem sämtliche Arbeiten zu dokumentieren sind, wurde jedoch der Frontenwagen als vollständig bestückt eingetragen. Am folgenden Tag trug der Produktionshelfer wiederum einen unfertigen Frontenwagen als vollständig erledigte Leistung in das Akkordbuch ein.

Der Produktionshelfer erklärte nach Aufdeckung der Vorfälle, er habe die Leistungen jeweils am folgenden Arbeitstag fertigstellen wollen. Ihm wäre nicht klar gewesen, wie er unvollständige Leistungen hätte dokumentieren können. Tatsächlich wurde die Bestückung der Frontenwagen jedoch von der nachfolgenden Spätschicht beendet, da die Wagen noch in der Spätschicht benötigt wurden.

Nach Anhörung des Produktionshelfers wurde durch die Arbeitgeberin ein Kündigungsverfahren eingeleitet. Neben einer fristlosen Kündigung wurde ersatzweise eine, ordentliche, fristgerechte Kündigung ausgesprochen.

Dem Produktionshelfer wurde vorgeworfen, durch falsche Abrechnung systematisch eine überhöhte Akkordvergütung erschleichen zu wollen. Insbesondere, weil erst kurz vor dem Geschehen eine Einweisung des Abteilungsleiters erfolgt sei, welche Frontenwagen auf jeden Fall am gleichen Tag fertiggestellt werden müssten und welche Frontenwagen auch noch am nächsten Tag fertigstellbar seien.

Der Produktionshelfer hingegen argumentierte, er sei nur aushilfsweise in der Abteilung „Auszüge kommissionieren“ eingesetzt worden. Ihm sei keine Anweisung bekannt, die gegen eine Fertigstellung der Kommissionierung von Frontenwagen am nächsten Tag spreche.

Obwohl genügend Gelegenheit bestand, hatte der Produktionshelfer keinen Versuch unternommen, die Diskrepanz zwischen Abrechnung und tatsächlicher Leistung klarzustellen. Die Arbeitgeberin unterstellte als Motiv mutwilligen Betrug, der einen dringenden Kündigungsgrund darstelle.

Der Produktionshelfer beantragte in erster Instanz, die Unwirksamkeit der beiden Kündigungen festzustellen. Das Arbeitsgericht Herford wies die Klage des Produktionshelfers ab (Urteil vom 11.10.2012, Aktenzeichen – 3 Ca 673/12).

Das Arbeitsgericht Herford war überzeugt, dass der Produktionshelfer in zwei Fällen einen versuchten Lohnbetrug begangen hat. Die arbeitsvertragliche Verletzung sei so erheblich, dass es der Arbeitgeberin nicht zumutbar sei, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ende der Kündigungsfrist fortzusetzen.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hob die Entscheidung des Arbeitsgerichtes auf. Das Arbeitsverhältnis ist weder durch die außerordentliche Kündigung noch durch die nachfolgende ordentliche Kündigung beendet worden. 

Das Landesarbeitsgericht bestätigt die mehrfache und erhebliche Pflichtverletzung des Produktionshelfers. Die Pflichtverletzungen seien jedoch nicht so schwerwiegend, dass das Arbeitsverhältnis ohne vorherige Abmahnung beendet werden könnte, da die beanstandeten Verhaltensweisen steuerbar seien.

Das Landesarbeitsgericht sieht nicht als ausreichend erwiesen an, dass der Produktionshelfer sich eine überhöhte Vergütung erschleichen wollte. Auch für eine Verdachtskündigung sei kein Anlass vorhanden. Es sei nicht erwiesen, dass das Verhalten ausschließlich als versuchter Lohnbetrug zu deuten ist.

Prinzipiell seien die vom Arbeitsgericht festgestellten unrichtigen Aufzeichnungen so schwerwiegende Verstöße, dass sie für sich einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen.

Das Landesarbeitsgericht sieht aber kein systematisches Vorgehen im Verhalten des Produktionshelfers. Die praktischen Abläufe in der Produktion lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass unvollständige Arbeitsleistungen und falsche Eintragungen in das Akkordbuch nicht entdeckt würden. Der Produktionshelfer konnte folglich nicht davon ausgehen unentdeckt zu bleiben.

Es sei nicht auszuschließen, dass der Produktionshelfer einer zu erwartenden unangenehmen Situation ausweichen wollte, die zwangsläufig entstanden wäre, wenn er sein Fehlverhalten angezeigt hätte. Es lag auf der Hand, dass der Abteilungsleiter ihm sein vertragswidriges Verhalten vorhalten würde. Er hätte die Verantwortung für die von ihm verursachten Produktionsstörungen einräumen müssen. Damit verbunden sei eine gewisse Hemmschwelle, die sein Verhalten nachvollziehbar mache.

Andere Interpretationen des Verhaltens, welche die Untätigkeit des Produktionshelfers zur Aufklärung des Sachverhaltes erklären, seien also durchaus möglich. Somit begründet das Verhalten des Produktionshelfers weder die Tat- noch die Verdachtskündigung.

Der von der Arbeitgeberin ausgesprochen Verdacht kann also nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Ein dringender Verdacht kann nicht bestätigt werden. Es komme zwar vorsätzliches Handeln in Betracht, genauso gut könne aber die unterlassene Korrekturmeldung auf die Hemmschwelle zurückgeführt werden, der keine Bereicherungsabsicht zugrunde liegt.

 Daraus schlussfolgert das Landesarbeitsgericht:

Kann das Gericht die volle und zweifelsfreie Überzeugung vom Vorliegen eines Vorsatzes nicht gewinnen, weil nach den Umständen auch ein nicht vorsätzliches Handeln in Betracht kommt, so kann allein aus der Unaufklärbarkeit des Geschehens nicht die Dringlichkeit des Verdachts hergeleitet werden.

Das Landesarbeitsgericht stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen nicht beendet wurde.

Die Revision wurde nicht zugelassen.