Verzicht auf Tariflohn ist unwirksam
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 12.02.2014, Aktenzeichen 4 AZR 317/12
Der tarifvertragliche Anspruch auf Lohnleistungen kann nicht durch einen einzelvertraglichen Verzicht aufgehoben werden. Der Verzicht ist selbst dann unwirksam, wenn er erst nach einem Betriebsübergang ausgesprochen wurde.
Die Beschäftigte einer Klinik war gleichzeitig Mitglied der Gewerkschaft ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft). Nach der Insolvenzeröffnung übernahm der Insolvenzverwalter die Klinik auf dem Wege eines Betriebsübergangs.
Der neue Betreiber versuchte, die Verpflichtung offener Sonderzahlungen zu reduzieren. Der Betriebsübergang erfolgte im Jahr der Betriebsübernahme mit Beginn des Monats Dezember. Die Sonderzahlungen (Weihnachtsgeld) sollten in diesem Jahr nur anteilig für Dezember erfolgen. Die Beschäftigte unterschrieb zwei Schreiben, dass sie unwiderruflich auf den anteiligen Anspruch aus den vorherigen 11 Monaten des Jahres verzichtet.
Im März des folgenden Jahres verlangte die Beschäftigte gegenüber der Arbeitgeberin erfolglos schriftlich die volle Jahressonderzahlung nach Tarifvertrag.
In der anschließenden Klageschrift an das Arbeitsgericht erklärte die Beschäftigte zudem, die Verzichtserklärung sei nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG (Tarifvertragsgesetz) sowie wegen der Umgehung von § 613a BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) unwirksam.
Die Arbeitgeberin argumentierte, die Beschäftigte hätte unwiderruflich auf die Zahlung des anteiligen Anspruchs verzichtet. Eine Zustimmung der Gewerkschaft ver.di sei nicht erforderlich gewesen. Der tarifliche Anspruch sei durch den Betriebsübergang in einen individualrechtlichen Anspruch übergegangen. Die Beschäftigte habe zudem durch die vollständige Anerkennung bisheriger Beschäftigungszeiten eine Kompensation für die geringere Zahlung der Sonderleistungen erhalten. Die Beschäftigte verhalte sich treuewidrig, indem sie sich auf die Unwirksamkeit der Verzichtserklärung berufe.
Das Arbeitsgericht verurteilte die Arbeitgeberin zur Zahlung der ausstehenden anteiligen Jahressonderzahlung und wies die Klage im Übrigen ab. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Arbeitgeberin zurück und gab der Berufung der Beschäftigten teilweise statt.
Vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgten die klagenden Parteien ihre Ziele weiter.
Das BAG erklärte die Revision der Arbeitgeberin für unzulässig. Die Vorinstanzen hätten zu Recht den Anspruch der Beschäftigten auf Zahlung der ausstehenden Jahressonderzahlung anerkannt. Die Verzichtserklärung sei nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG unwirksam. Die Ansprüche der Beschäftigten widersprächen auch nicht den Grundsätzen von Treu und Glauben nach § 242 BGB.
Die Arbeitgeberin gestehe grundsätzlich zu, dass die Beschäftigte die Anspruchsvoraussetzungen erfülle. Es handle sich um eine durch den Insolvenzverwalter selbst begründete Masseforderung, da er die Klinik bereits seit dem Vorjahr weitergeführt habe. Die Beschäftigte habe nicht wirksam auf ihren Anspruch verzichtet. Der Anspruch sei nicht aufgrund der Verzichtserklärung der Beschäftigten erloschen, da die Beschäftigte auf eine unstreitig entstandene Forderung verzichten sollte.
Das BAG erläuterte:
Ein einzelvertraglicher Verzicht auf entstandene tarifliche Ansprüche ist wegen eines Verstoßes gegen das gesetzliche Verbot des § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig (vgl. nur BAG 12. Dezember 2007 – 4 AZR 998/06 – Rn. 44 mwN, BAGE 125, 179). Die Klägerin kann ihren tariflichen Anspruch trotz des Verzichts in Form von zwei Erlassverträgen nach § 397 BGB uneingeschränkt geltend machen.
Für die Unwirksamkeit des Verzichts sei es unerheblich, ob ein sachlicher Grund vorgelegen hätte. Der tarifliche Anspruch der Beschäftigten sei nicht durch den Betriebsübergang in einen individualrechtlichen Anspruch umgewandelt worden. Der Anspruch sei bereits vor dem Betriebsübergang entstanden.
Die in Kollektivverträgen durch Rechtsnormen geregelten Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer gingen als sogenannte transformierte Normen in das Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber über, wobei deren kollektivrechtlicher Charakter beibehalten würde. Es handele sich um einen Übergang kollektivrechtlicher Regelungen.
Es verstoße nicht gegen Treu und Glauben, wenn sich eine Partei nachträglich auf die Unwirksamkeit ihrer Willenserklärung berufe oder ein zustande gekommenes Rechtsgeschäft angreife.
Widersprüchliches Verhalten ist erst dann rechtsmissbräuchlich, wenn dadurch für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (BGH 5. Juni 1997 – X ZR 73/95 – zu II 4 b der Gründe mwN).
Die Beschäftigte habe mit der Abgabe einer Verzichtserklärung, die gegen zwingende gesetzliche Regelungen des Tarifvertragsgesetzes verstoße, keinen Vertrauenstatbestand geschaffen.