Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung
Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Januar 2014, Aktenzeichen 14 Sa 776/13
Eine außerordentliche Kündigung kann nur wirksam sein, wenn sie auf einem wichtigen Grund basiert. Der wichtige Grund muss einer Interessenabwägung standhalten, die berücksichtigt, ob der Arbeitgeberin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Abwägung beiderseitiger Interessen und Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unzumutbar ist.
Ein Beschäftigter in einem Unternehmen der Informationstechnologie stand in mehrjähriger privater Beziehung zu einer Frau, die seine unmittelbare Vorgesetzte wurde. Beide legten ihre private Beziehung, die zu diesem Zeitpunkt möglicherweise nur noch eingeschränkt bestand, im Unternehmen nicht offen.
Der Beschäftigte erhielt von seiner Vorgesetzten an einem Tag 3 schriftliche Ermahnungen und 4 Tage später drei schriftlich formulierte Abmahnungen. Einen guten Monat später fand ein Personalgespräch statt, in dessen Verlauf eine weitere Abmahnung ausgehändigt wurde, die bereits rund zwei Wochen vorher datiert war. Gegenstand des Gespräches war das Gleitzeitkonto des Beschäftigten, auf dem sich ein hoher Stundenbetrag angesammelt hatte, der abgebaut werden sollte. Zudem wurde seine inzwischen beendete Beziehung zu seiner Vorgesetzten ins Gespräch gerückt.
Während des Gespräches wurde ein Programm zur Verbesserung der Leistung von Mitarbeitern angeordnet, das für Mitarbeiter angewendet wird, deren Leistungen aus Sicht des Managements nicht zufriedenstellend sind. Die Anordnung dieses Programms wird in der Personalakte festgehalten und steht dem beruflichen Werdegang des betroffenen Mitarbeiters massiv im Weg.
Nach dem Gespräch gab der Beschäftigte seiner Vorgesetzten die Hand und drückte diese so, dass die Vorgesetzte einen Schmerzenslaut von sich gab.
Der Beschäftigte suchte am Folgetag seinen Hausarzt auf. Der Arzt diagnostizierte eine akute Belastungsstörung und überwies ihn zum Psychiater. Es folgte eine Krankschreibung bis zum Ende des Monats.
Die Vorgesetzte ließ am Folgetag ihre Hand in einem Krankenhaus untersuchen. Es wurden Schmerzsymptome diagnostiziert, aber keine Verletzungen. Drei Tage später diagnostizierte der Hausarzt Blutergüsse im Bereich des rechten Handrückens.
Eine gute Woche nach dem Gespräch stellte die Vorgesetzte Strafanzeige. Das polizeiliche Verfahren wurde 5 Monate später eingestellt.
Eine Woche nach dem Gespräch hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat schriftlich zur beabsichtigten fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung und äußerte sich nicht zur ordentlichen Kündigung.
Knapp zwei Wochen nach dem Gespräch kündigte die Arbeitgeberin dem Mitarbeiter fristlos wegen Tätlichkeit gegenüber seiner Vorgesetzten. Zwei Tage später übersandte die Arbeitgeberin ein Schreiben mit der hilfsweise ordentlichen Kündigung.
Der Beschäftigte erhob Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht gegen die beiden Kündigungen. Er forderte zudem die Entfernung von drei Ermahnungen und vier Abmahnungen aus seiner Personalakte.
Der Beschäftigte trug vor, seine Vorgesetzte hätte das Ende der Beziehung nicht verarbeitet. Das sei der einzige Grund für ihre arbeitsrechtlichen Sanktionen. Sie nutze in verwerflicher Weise ihre Vorgesetztenstellung aus. Im Übrigen habe er nur gute und sehr gute Bewertungen von seiner Arbeitsstelle erhalten.
Die außerordentliche Kündigung sei mangels wichtigem Grund unwirksam. Für die ordentliche Kündigung fehle es an einer sozialen Rechtfertigung. Er habe sich nach dem Gespräch absolut hilflos und ausgezählt gefühlt, ihm hätten beim Weggehen Tränen in den Augen gestanden und er hätte seine Verzweiflung kaum noch beherrschen können.
Die Arbeitgeberin beantragte, die Klage abzuweisen. Die Ermahnungen und Abmahnungen seien gerechtfertigt. Die außerordentliche Kündigung, zumindest aber die hilfsweise ordentliche Kündigung, sei wirksam. Die in Arztbriefen festgestellte Verletzung der Hand der Vorgesetzten hätte ihre Ursache im Händedruck. Es handele sich um eine vorsätzliche Körperverletzung.
Das Arbeitsgericht Frankfurt gab der Klage in vollem Umfang statt. Sämtliche Ermahnungen seien zu entfernen, weil sie unwahre Tatsachen enthielten. Die Abmahnungen seien zu entfernen, weil sie unbewiesene Vorwürfe enthielten. Außerordentliche und ordentliche Kündigung seien nicht gerechtfertigt.
Die Arbeitgeberin legte beim Landesarbeitsgericht (LAG) Berufung ein und stellte für das Arbeitsverhältnis einen Auflösungsantrag.
Das LAG bestätigte, die fristlose Kündigung sei unwirksam, weil kein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) vorliege. Zunächst sei zu prüfen, ob der Sachverhalt an sich einen wichtigen Grund darstelle. Anschließend sei abzuwägen, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Abwägung beidseitiger Interessen bis zum Ende der Kündigungsfrist unmöglich erscheine. Es sei zu prüfen, ob das Interesse der Arbeitgeberin an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand überwiege.
Das LAG ging, anders als das Arbeitsgericht davon aus, dass ein Grund vorliege, der eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertige. Der Beschäftigte habe schuldhaft seiner Vorgesetzten körperliche Schmerzen zugefügt. Die außerordentliche Kündigung sei dennoch, nach Abwägung aller Interessen nicht gerechtfertigt. Es hätte völlig ausgereicht eine Abmahnung auszusprechen, damit sich ein solcher Vorfall nicht wiederholt. Der Arbeitgeberin sei eine Weiterbeschäftigung zumutbar.
Sowohl außerordentliche als auch ordentliche Kündigung setzten eine Abmahnung voraus. Eine Kündigung sei keine Sanktion für begangene Pflichtverletzungen, sondern diene der Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Die Abmahnung sei ein geeignetes Mittel, den Mitarbeiter so zu beeinflussen, dass keine erneute Pflichtverletzung entstehe.
Der Beschäftigte stand 22 Jahre im Arbeitsverhältnis ohne, dass es jemals zu einem aggressiven Verhalten gekommen wäre. Die kürzlich erteilten Abmahnungen hätten kein aggressives Verhalten zur Basis.
Es könne nicht auf eine Gewaltneigung des Beschäftigten geschlossen werden. Die Situation, in der dieser Händedruck erfolgte, sei eine extreme Ausnahmesituation. Der Beschäftigte sei nachvollziehbar psychisch massiv belastet gewesen. Er erhielt anlässlich des Gespräches eine weitere Abmahnung zu den wenige Tage vorher erteilten Ermahnungen und Abmahnungen. Hingegen sei zuvor, in den 22 Jahren seiner Beschäftigung nie eine schriftliche Rüge erteilt worden.
Bei einer derart langen Vertragsbeziehung sei davon auszugehen, dass ein einmaliger Vertrauensbruch nicht unwiederbringlich das Vertrauensverhältnis zwischen beiden Partnern zerstört.
Es sei zu berücksichtigen, dass der Beschäftigte jahrelang eine intime Beziehung zu seiner jetzigen Vorgesetzten hatte. Die soziale Hemmschwelle für unangemessenes Verhalten sei deshalb geringer, als gegenüber Vorgesetzten, mit denen nur berufliche Beziehungen bestünden.
Die Vorgesetzte hätte spätestens zu dem Zeitpunkt, als sich die Konflikte mit dem Beschäftigten verschärften, ihre frühere private Beziehung zum Beschäftigten offen legen müssen, um eine Eskalation zu verhindern.
Es sei auch zu berücksichtigen, dass dem Vorfall unberechtigte arbeitsrechtliche Sanktionen vorausgegangen seien, die von der Vorgesetzten des Beschäftigten mit initiiert wurden und dass der Beschäftigte sich in einer nach eigener Aussage verzweifelten psychischen Verfassung befand.
Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt und habe das Arbeitsverhältnis ebenfalls nicht aufgelöst. Die Kündigung sei nicht durch Gründe im Verhalten des Beschäftigten bedingt. Es war ebenso wie für die außerordentliche Kündigung zumutbar, das Mittel der Abmahnung der Kündigung vorzuziehen.
Das Arbeitsverhältnis sei auch nicht auf den Auflösungsantrag unter Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Für die Auflösung eines Arbeitsverhältnis sei zu betrachten, ob die objektive Lage die Besorgnis rechtfertigt, dass die weitere Zusammenarbeit mit dem Mitarbeiter gefährdet sei. Eine solche Situation war nicht gegeben.
Alle benannten Abmahnungen seien aus der Personalakte zu entfernen. Die Abmahnungen wären alle nicht substantiell formuliert. Es fehlten konkrete Bezeichnungen der Verfehlungen und wann diese begangen worden sein sollen.
Eine der Abmahnungen enthielte unzutreffende Tatsachenbehauptungen und war deshalb zu entfernen. Die Arbeitgeberin sei nicht berechtigt, mittels Abmahnung den Verdacht einer Pflichtverletzung zu formulieren und das berufliche Fortkommen aufgrund des Verdachtes zu erschweren. Das Arbeitsrecht kenne keine Verdachtsabmahnung.
Eine Revision der Entscheidung wurde nicht zugelassen.