Außerordentliche Kündigung wegen vernachlässigter Mitteilungspflicht
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.03.2015, Aktenzeichen 2 AZR 517/14
Gerät ein Arbeitnehmer in Untersuchungshaft und informiert seine Arbeitgeberin nicht darüber, ist eine fristlose Kündigung dennoch nicht zwangsweise gerechtfertigt.
Ein schwerbehinderter Diplom-Informatiker wurde in eine andere Betriebsstätte der Arbeitgeberin versetzt. Nach seiner Versetzung war der Informatiker zunächst krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Anschließend bewilligte die Arbeitgeberin den beantragten Erholungsurlaub. Noch während des Erholungsurlaubs bat der Informatiker seinen Vorgesetzten, ihn bis Anfang August von der Pflicht zur Arbeitsleistung freizustellen, da er gegen die Versetzung Klage erhoben habe. Der Vorgesetzte lehnte den Freistellungsantrag ab und äußerte die Erwartung, den Informatiker nach seinem Erholungsurlaub wieder am Arbeitsplatz zu sehen.
Gegen den Informatiker wurde ein Strafverfahren geführt. Während seines Erholungsurlaubes wurde er während einer Verhandlung im Gerichtssaal verhaftet. Der Haftbefehl basierte auf dem Verdacht der Ausstellung falscher Lohnsteuerbescheinigungen und der unrechtmäßigen Vereinnahmung von Lohnsteuererstattungen. Während der Verhaftung im Gerichtssaal war eine Rechtsanwältin zugegen, die das Verfahren im Auftrag der Arbeitgeberin beobachtete.
Der Informatiker nahm nach seiner Verhaftung keinen Kontakt zur Arbeitgeberin auf. Er informierte sie weder über seinen Aufenthaltsort in der Justizvollzugsanstalt noch über den Grund seines Aufenthaltes.
Zwei Tage nach der Verhaftung beantragte die Arbeitgeberin beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen, hilfsweise zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Nach der Zustimmung des Integrationsamtes kündigte die Arbeitgeberin fristlos und stellte dem Informatiker die Kündigung in der Justizvollzugsanstalt zu.
Im folgenden Monat kündigte die Arbeitgeberin erneut außerordentlich fristlos. Später im gleichen Monat formulierte die Arbeitgeberin hilfsweise eine ordentliche Kündigung zum nächst zulässigen Termin. Beide Kündigungen wurden vom Integrationsamt genehmigt.
Der Informatiker wandte sich vor dem Arbeitsgericht gegen die Kündigungen. Für die außerordentliche Kündigung läge kein wichtiger Grund nach § 626 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) vor. Zudem fehle es an einer Anhörung des Betriebsrats und einer wirksamen Zustimmung des Integrationsamts. Die beiden nachfolgenden Kündigungen seien ihm nicht zugegangen.
Der Informatiker beantragte vor dem Arbeitsgericht die Feststellung, das Arbeitsverhältnis sei weder durch die außerordentlichen Kündigungen noch durch die ordentliche Kündigung aufgelöst worden.
Die Arbeitgeberin beantragte die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzuheben. Der Informatiker habe seine Pflicht verletzt, trotz schriftlicher Abmahnung nach Urlaubsende den Grund seiner Abwesenheit mitzuteilen.
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Klage ab. Mit der Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) strebte der Informatiker die Wiederherstellung des Urteils aus der ersten Instanz an.
Nach Ansicht des BAG habe das LAG die Klage zu unrecht in vollem Umfang abgewiesen. Das Arbeitsverhältnis sei durch die fristlose Kündigung nicht aufgelöst worden, da kein wichtiger Grund im Sinne von § 626 BGB vorlag. Ob das Arbeitsverhältnis durch eine der beiden nachfolgenden Kündigungen aufgelöst wurde, stehe nicht fest. Aus diesen Gründen wurde das Berufungsurteil aufgehoben, das erstinstanzliche Urteil teilweise wiederhergestellt und das Verfahren zum LAG zurückverwiesen.
Mit seiner bisherigen Begründung durfte das LAG nicht von einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats ausgehen. Der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß über die Art der Kündigung informiert worden. Der Verweis der Arbeitgeberin während des Berufungsverfahrens auf ein anderes Schreiben an den Betriebsrat sei ein neuer Tatsachenvortrag, der in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden könne.
Die ausserordentliche Kündigung sei auf jeden Fall unwirksam, weil es an einem wichtigen Grund fehle. Für eine fristlose Kündigung müssten Tatsachen vorliegen, die dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und bei Abwägung aller Interessen beider Vertragsparteien, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Kündigungstermin nicht zumutbar seien.
Dabei sei zunächst zu prüfen oder der Sachverhalt an sich bereits einen wichtigen Grund darstelle. Daran anschließend seien die konkreten Umstände des Falls darauf zu prüfen, ob eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar sei. Eine außerordentliche Kündigung ist unwirksam, wenn bereits eine ordentliche Kündigung geeignet ist, das Risiko künftiger Störungen zu vermeiden. Diesen Maßstäben würde die Entscheidung des LAG nicht gerecht.
Eine schuldhafte Verletzung der Hauptpflicht zur Arbeit sei nicht gegeben, da der Informatiker wegen seiner Inhaftierung objektiv daran gehindert war, seiner Arbeit nachzugehen. Es handele sich in diesem Fall um einen Verstoß gegen arbeitsvertragliche Nebenpflichten. Die Nebenpflicht bestehe darin, auf die berechtigten Interessen der Arbeitgeberin Rücksicht zu nehmen. Der Arbeitnehmer habe die Pflicht, im Rahmen des zumutbaren, die Arbeitgeberin unaufgefordert und rechtzeitig über Umstände zu informieren, die einer Erfüllung der Arbeitspflicht entgegenstehen.
Der Arbeitnehmer habe eine Untersuchungshaft unverzüglich anzuzeigen und die Arbeitgeberin über die voraussichtliche Haftdauer in Kenntnis zu setzen.
Ein Verstoß gegen Mitteilungspflichten sei jedoch nicht ohne Weiteres geeignet, eine außerordentliche Kündigung auszusprechen. Dazu wäre es notwendig, dass der Arbeitnehmer durch sein Verhalten deutlich macht, dass er auch in Zukunft seiner Pflicht nicht nachkommen werde.
Die bisherigen Feststellungen würden nicht aufzeigen, dass es sich um einen besonders schweren Pflichtverstoß handele.
Das LAG argumentierte, der Informatiker habe es zum Kündigungszeitpunkt bereits wochenlang unterlassen, die Arbeitgeberin über seine Arbeitsverhinderung und deren Ursachen zu informieren. Es seien keine Gründe zu erkennen, die es unmöglich gemacht hätten, die Arbeitgeberin zu informieren.
Die Mitteilungspflicht sei auch nicht entfallen, weil der Arbeitgeberin die Verhaftung bekannt war. Sie sei nicht über den Grund der Festnahme informiert gewesen und es war ihr nicht bekannt, dass der Informatiker in Untersuchungshaft genommen worden war.
Das LAG sah die Vertragsverletzung als besonders schwerwiegend an, da der Informatiker seine Inhaftierung vorsätzlich nicht angezeigt hätte. Er habe seinen Aufenthaltsort geheim halten und seine Arbeitgeberin davon abhalten wollen, arbeitsrechtliche Schritte gegen ihn einzuleiten.
Das BAG erklärte, diese Betrachtung würde von den tatsächlichen Feststellungen nicht getragen. Im Urteil gebe es auch keine Begründung für diese Annahme und es seien keine objektiven Tatsachen erkennbar, die für ein vorsätzliches Verhalten sprächen.
Obwohl die Pflichtwidrigkeit für den Informatiker erkennbar gewesen sein mag, könne nicht gefolgert werden, er sei seiner Anzeigepflicht beharrlich und vorsätzlich nicht nachgekommen. Sein Verhalten könne ebenso gut auf Nachlässigkeit beruhen.
Die Arbeitgeberin hätte auch durch eine zielgerichtete Information nicht wesentlich mehr Planungssicherheit bekommen, da eine Untersuchungshaft mit Unwägbarkeiten ihrer Beendigung verbunden ist.
Die Annahme des LAG, es sei mit weiteren Verletzungen der Anzeigepflicht zu rechnen, sei fehlerhaft. Diese Annahme gehe von einer Vorsätzlichkeit des Informatikers aus, die nicht beweisbar ist.
Zugunsten der Arbeitgeberin sei zu bewerten, dass sie vor der Kündigung eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens zugestellt habe. Dennoch sei es der Arbeitgeberin zumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.
Es sei nicht auszuschließen, dass der Informatiker irrtümlich angenommen habe, er sei nicht zu weiteren Mitteilungen verpflichtet, weil die Prozessbevollmächtigte der Arbeitgeberin bei seiner Inhaftierung anwesend war. Ein solcher Irrtum sei für die Interessenabwägung von Bedeutung. Die Arbeitgeberin konnte wegen der Festnahme zumindest vermuten, dass der Informatiker nicht in der Lage sein würde, seiner Arbeitspflicht nachzukommen. Das sei ein weiterer Grund, der die Pflichtverletzung mildere.
In der Interessenabwägung sprächen auch das Lebensalter und seine Betriebszugehörigkeit für den Informatiker. Frühere Pflichtverletzungen seien nicht festgestellt worden. Auch sonst seien keine Umstände erkennbar gewesen, die es der Arbeitgeberin unmöglich gemacht hätten, das Arbeitsverhältnis zumindest für die Dauer der Kündigungsfrist fortzusetzen.
Wegen weiterer Streitgegenstände aus der Revision sei der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif und wurde deshalb zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.