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Kündigung ohne Massenentlassungsanzeige kann unwirksam sein

Fehlende Massenentlassungsanzeige macht Kündigung unwirksam

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.03.2015, Aktenzeichen 8 AZR 119/14

Werden mehrere Mitarbeiter innerhalb eines Zeitraumes von 30 Kalendertagen entlassen, ist die Arbeitgeberin zur schriftlichen Massenentlassungsanzeige verpflichtet, falls die Zahl der betroffenen Mitarbeiter die Werte nach § 17 Abs. 1 KschG (Kündigungsschutzgesetz) überschreitet. Erfolgt keine Massenentlassungsanzeige, sind ausgesprochene Kündigungen unwirksam.

Eine Redakteurin war in einer Lokalredaktion beschäftigt, die einer Tageszeitung zuarbeitete. Die Arbeitgeberin entschied, nur noch die Bereiche Anzeigen und Back-Office selbst zu betreiben. Die Aufgaben der Lokalteile sollten nicht mehr mit eigenen Redakteuren, sondern mit Subunternehmen erfüllt werden. Dafür wurden innerhalb des Medienunternehmens zwei neue GmbH-Firmen gegründet, die als sogenannte Produktionsköpfe agieren. Es wurde die Aufgabe der Produktionsköpfe, eigenverantwortlich Lokalteile zu erstellen und diese an die Mantelredaktion des Unternehmens weiter zuleiten. Die Lokalteile wurden nun durch Angestellte und freie Redakteure erstellt. Zusätzlich wurden Beiträge oder ganze Seiten von zwei regionalen Unternehmensgesellschaften zugeliefert. Die Unternehmensgesellschaften beschäftigten dafür keine Arbeitnehmer, sondern griffen auf freie Mitarbeiter und Meldungen von Agenturen zurück.

Mit 16 der 18 Lokalredakteure führte die Arbeitgeberin Personalgespräche. Alle angesprochenen Redakteure beendeten ihr Arbeitsverhältnis kurzfristig durch Aufhebungsverträge, spätestens zum Ende des gleichen Monats. Sie wurden nathlos teilweise in anderen Konzernteilen weiterbeschäftigt, teilweise als freie Mitarbeiter in den Produktionsköpfen sowie den neu gegründeten regionalen Unternehmensgesellschaften.  

Die Redakteurin und ein weiterer lokaler Redakteur waren von diesen Gesprächen und Angeboten ausgenommen. Sie erhielten am letzten Tag des Entlassungsmonats ein Kündigungsschreiben, das unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfrist den Kündigungstermin 6 Monate nach der Kündigung benannte.

Gegen die Kündigung klagte die Redakteurin beim Arbeitsgericht. Sie vertrat die Auffassung, ihr Arbeitsverhältnis bestehe nach erfolgtem Betriebsteilübergang weiter. Der Betriebsteil, in dem die Redakteurin tätig war, würde in denselben Räumen unter Nutzung unveränderter Technik mit denselben Mitarbeitern weiterhin zur Produktion des Lokalteils genutzt. Die Kündigung sei zudem wegen unterbliebener Massenentlassungsanzeige unwirksam.

Die Redakteurin beantragte festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis weiter bestehe und die neue Arbeitgeberin zu verurteilen, die Redakteurin zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter zu beschäftigen. Weiterhin sei festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht beendet wurde, hilfsweise habe die bisherige Arbeitgeberin eine Abfindung gemäß § 113 BetrVG, § 10 KSchG zu zahlen.

Das Arbeitsgericht stellte fest, das Arbeitsverhältnis sei nicht durch die Kündigung beendet worden und wies im Übrigen die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Berufung der Redakteurin zurück und änderte die Entscheidung des Arbeitsgerichts teilweise ab. Es wies den Antrag zur Weiterbeschäftigung ab und entsprach dem Hilfsantrag zur Zahlung einer Abfindung. Mit ihrer Revision wendete sich die Redakteurin gegen die Entscheidungen.

Das BAG bestätigte, die Kündigung der Redakteurin sei unwirksam, da keine Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit erstattet wurde. Ein Betriebsteilübergang habe hingegen nicht stattgefunden.

Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KschG (Kündigungsschutzgesetz) ist eine Arbeitgeberin verpflichtet, der Agentur für Arbeit schriftlich (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) Anzeige zu erstatten, bevor sie in Betrieben, mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern, mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stünden andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, soweit sie von der Arbeitgeberin veranlasst wurden.

Die Arbeitgeberin beschäftigte regelmäßig 31 Arbeitnehmer. Der Schwellenwert von 5 entlassenen Mitarbeitern sei überschritten worden. Die im Rahmen der Stilllegung von der Arbeitgeberin beabsichtigten Aufhebungsverträge stünden nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KschG den Kündigungen gleich.

Im Gegensatz zur Auffassung des LAG (Landesarbeitsgerichtes) sei es nicht von Bedeutung, auf welchen Zeitpunkt der Beendigung Kündigungen und Aufhebungsverträge gerichtet seien. Maßgebend sei der Zeitpunkt der Erklärung der Kündigung bzw. des Aufhebungsvertrages, da die Anzeige vor den Entlassungen zu erstatten ist. Das BAG erläuterte, unter Entlassung sei die Erklärung der Kündigung, also der Zeitpunkt der Veranlassung zu verstehen. Mit der Massenentlassungsanzeige zu diesem Zeitpunkt werde die Pflicht zur Einhaltung bestimmter Verfahren zum Schutz der Arbeitnehmer ausgelöst.

Der Schwellenwert von 5 Arbeitnehmern für Betriebe mit 20 bis 60 Arbeitnehmern nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG  liege unter dem Wert von 10 Arbeitnehmern für Betriebe mit 20 bis 100 Arbeitnehmern entsprechend Art. 1 Abs. 1 Buchst. a i 1. Spiegelstrich 98/59/EG (Europäische Richtlinie vom 20. Juli 1998). Die Abweichung sei jedoch bedenkenlos anwendbar, da die europäische Richtlinie den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit offen lasse, für die Arbeitnehmer günstigere Regelungen anzuwenden.

Der Schwellenwert von 5 entlassenen Arbeitnehmern wurde erreicht, da zwei betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen wurden, sowie 4 Aufhebungsverträge hinzuzuzählen seien.

Ein Aufhebungsvertrag gelte dann als Entlassung, wenn er von der Arbeitgeberin veranlasst wurde, etwa mit dem Hinweis, dass andernfalls das Arbeitsverhältnis beendet werde. Damit werde eine unmittelbare Willensäußerung der Arbeitgeberin manifestiert. Zusätzlich müsse der Arbeitnehmer dem Aufhebungsvertrag zustimmen, damit der Aufhebungsvertrag als andere Beendigung im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG gelten könne. Das gelte auch, wenn ein Arbeitnehmer selbst kündigt, um einer sonst notwendigen Kündigung durch die Arbeitgeberin zuvor zu kommen.

Die Arbeitgeberin hatte innerhalb von 30 Kalendertagen nicht nur 2 Kündigungen ausgesprochen, sondern mit 16 Arbeitnehmern Personalgespräche geführt, und ihnen kurzfristig Aufhebungsverträge zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses angeboten. Aufhebungsverträge zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses seien eine die Veranlassung der Arbeitgeberin kennzeichnende unmittelbare Willensäußerung. Die Aufhebungsverträge wurden auf Veranlassung der Arbeitgeberin geschlossen und sind deshalb bei der Berechnung des Schwellenwertes zu berücksichtigen.

Die Berücksichtigung von Aufhebungsverträgen entfalle auch nicht, falls diesen eine nahtlose Weiterbeschäftigung oder andere Tätigkeit folge. Für die Auslösung der Anzeigepflicht zur Massenentlassungsanzeige komme es ungeachtet weiterer Umstände nur darauf an ob die Arbeitgeberin Entlassungen oder gleichgestellte Handlungen vornehme, die die maßgebenden Schwellenwerte erreichen.

Es seien 4 Aufhebungsverträge für die Massenentlassungsanzeige zu berücksichtigen, da anschließend an den Aufhebungsvertrag 4 Personen als freie Mitarbeiter tätig wurden. Soweit es überhaupt auf solche weitere Umstände ankomme, habe im frühen Zeitpunkt der Absicht noch nicht festgestanden, ob der Arbeitsmarkt belastet wird. Für die Anfangsphase der Selbständigkeit sei nicht absehbar, ob das erforderliche Einkommen erzielt wird oder aus anderen finanziellen Gründen wieder ein Arbeitsverhältnis angestrebt wird.

Da die Arbeitgeberin keine Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit übermittelte, war die Kündigung der Redakteurin unwirksam.