Kritik an Arbeitgeberin als freie Meinungsäußerung
Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 04.03.2016, Aktenzeichen 10TaBV 102/15
Kritik an der Geschäftsführung, ohne Beleidigungen oder Schmähungen, unterliegt der vom Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit und kann keine Basis für eine fristlose Kündigung darstellen.
Ein Altenpfleger ist seit mehr als 20 Jahren bei der Arbeitgeberin beschäftigt und Mitglied im Betriebsrat. Zusätzlich ist er seit einiger Zeit Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der N-Kliniken GmbH.
In einer E-Mail an den Leiter der Pflegeeinrichtung mit Kopien an den Aufsichtsratsvorsitzenden, den stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrats sowie dem von der Gewerkschaft entsandten Aufsichtsratsmitglied kritisierte der Pfleger betriebliche Zustände.
Die Geschäftsführung beantragte wenige Tage später beim Betriebsrat die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung. Nachdem am 4. Kalendertag nach Zustellung keine Zustimmung des Betriebsrats vorlag, beantragte die Arbeitgeberin beim Arbeitsgericht die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung.
Die E-Mail des Pflegers enthalte grobe Ehrverletzungen. Führungskräfte würden haltlos diffamiert. Die E-Mail enthalte unwahre Tatsachenbehauptungen und wider besseren Wissens behauptete Missstände, die es nicht gebe.
Der Vergleich mit dem nationalsozialistischen Terrorregime sei nicht hinnehmbar. Eine personenbezogene Auswertung von Aufzeichnungen finde nicht statt. Es gebe keine permanente tägliche Unterbesetzung im Tages- und Nachtdienst. Es sei nicht zutreffend, dass das Stammpersonal trotz des Ausscheidens von Mitarbeitern in den letzten Monaten nicht aufgestockt worden wäre. Der Pfleger erhebe nicht zum ersten Mal beleidigende Vorwürfe. Der Pfleger habe sämtlichen Respekt gegenüber seinen Vorgesetzten missen lassen und diese wiederholt ehrverletzend angegriffen.
Die Arbeitgeberin beantragte beim Arbeitsgericht, die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 103 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) zu ersetzen.
Der Pfleger beantragte Klageabweisung.
Die außerordentliche Kündigung sei unberechtigt. Seine E-Mail habe ausschließlich Kritik an den von ihm empfundenen Missständen bzw. Befürchtungen bezüglich zukünftiger Missstände bezweckt. Keiner seiner Sätze enthalte persönliche Herabsetzungen oder Beleidigungen. Sämtliche Äußerungen seien vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt.
Das Arbeitsgericht wies den Antrag der Arbeitgeberin zurück. Es gebe keinen Grund für eine außerordentliche Kündigung. Die E-Mail enthalte keine Beleidigungen oder Schmähungen, welche die Grenzen der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 1 GG (Grundgesetz) überschritten.
Die Arbeitgeberin wandte sich mit ihrer Beschwerde beim Landesarbeitsgericht (LAG) gegen das Urteil des Arbeitsgerichtes.
Das LAG bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichtes. Die verweigerte Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung sei nicht zu ersetzen, da die Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände nicht gerechtfertigt sei.
Weder die E-Mail vom 21.04.2015 noch die E-Mail vom 07.02.2016 enthalte grobe Beleidigungen oder wahrheitswidrige Tatsachenbehauptungen, die der Arbeitgeberin eine Berechtigung zur außerordentlichen Kündigung geben würden.
Ehrverletzende und wahrheitswidrige Tatsachenbehauptungen, ebenso wie grobe Beleidigungen, insbesondere wenn sie den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen, seien durchaus geeignet einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) darzustellen. Entscheidend sei der mit der Pflichtverletzung einhergehende Vertrauensbruch sowie die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Bereits die erstmalige Ehrverletzung könne kündigungsrelevant sein und wiege schwerer, je überlegter sie von Arbeitnehmerseite erfolgte.
Die nach dem Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit spiele aber bei kritischen Äußerungen von Arbeitnehmern gegenüber ihren Vorgesetzten oder über das Unternehmen oder andere Personen oder Einrichtungen des Unternehmens eine große Rolle und räume das Recht ein, die kritische Meinung äußern zu dürfen. Unternehmensöffentliche Kritik der Arbeitgeberin und betrieblicher Verhältnisse dürfe auch überspitzt und polemisch geäußert werden.
Angriffe, die in groben Maß unsachlich sind und zur Untergrabung der Position eines Vorgesetzten führen könnten, müsse die Arbeitgeberin jedoch nicht hinnehmen.
Die besondere Stellung von Betriebsratsmitgliedern sei zu berücksichtigen. Für den Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung seien strengere Maßstäbe anzulegen als für Arbeitnehmer, die nicht dem Betriebsrat angehörten.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei keine grenzüberschreitende Pflichtverletzung hinsichtlich des Gebots der Rücksichtnahme aus § 241 Abs.2 BGB festzustellen.
Der Vergleich betrieblicher Verhältnisse mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem sei in der Regel ein wichtiger Grund zur Kündigung. Eine solche Gleichsetzung sei aber in der E-Mail vom 21.04.2015 nicht enthalten. Es wurde zwar auf die Überwindung des nationalsozialistischen Terrorregimes angespielt. Die Arbeitgeberin oder für sie handelnde Personen wurde aber nicht mit den Tätern dieses Regimes gleichgesetzt. Die Formulierung „ aus dem Ruder laufen kann“ sei ein warnender Appell, dass die Entwicklung von Beginn an beobachtet werden müsse. Eine solche Äußerung ist vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt.
Die weitere Kritik der Arbeitgeberin am Pfleger beziehe sich auf zulässige Werturteile, die sich im Rahmen seiner Freiheit als Arbeitnehmer sowie als Betriebsrats- und Aufsichtsratsmitglied bewege, seine Meinung über betriebliche Zustände zu äußern.
Werturteile seien über Artikel 5 Absatz 1 GG in weiterem Umfang geschützt, selbst wenn es sich um überzogene, ungerechte oder ausfällige Kritik handele. Ungeschützt seien Werturteile nur dann, wenn es nicht mehr um die Sache geht, sondern die Herabsetzung einer Person im Vordergrund stehe, die jenseits polemischer und zugespitzter Kritik diffamiert und an den Pranger gestellt werden solle.
Die Äußerung in der E-Mail, dass „sich der Verdacht hegt, dass ehemalige Führungskräfte der N-Kliniken jetzt bei N. durch unsaubere Maßnahmen andere Ziele verfolgen, die sich jeder selbst ausmalen kann“, sei von der Sorge um eine nachteilige betriebliche Veränderung getragen und unterliege unzweifelhaft freier Meinungsäußerung. Das gelte auch für weitere Äußerungen in der E-Mail. Es spiele keine Rolle, ob diese Äußerungen auch Behauptungen über äußere oder innere Tatsachen enthielten. In ihrer Gesamtheit behielten die Äußerungen ihren vorrangig wertenden Charakter und lösten damit den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit aus.
Eine Trennung von tatsächlichen und wertenden Bestandteilen einer Äußerung dürfe nur dann erfolgen, wenn dadurch deren Sinn nicht verfälscht werde. Wo dies der Fall wäre, müsste die Erklärung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.
Die gewählten Formulierungen brächten eine subjektive geprägte Wertung klar zum Ausdruck. In den E-Mails werde die Perspektive eines betroffenen Arbeitnehmers, und noch mehr die Sicht eines Betriebsrats- und Aufsichtsratsmitgliedes dargestellt, in der Sorgen über betriebliche Entwicklungen und Zustände zum Ausdruck gebracht werden. Die tatsächlichen Bestandteile des Vorbringens seien so eng verwoben, dass sie von den zugrundeliegenden Wertungen und Einschätzungen nicht getrennt werden könnten, ohne die wahre Bedeutung der Äußerungen zu verfälschen. Deshalb unterlägen sämtliche Äußerungen in den E-Mails, unabhängig von ihrer sachlichen Berechtigung, insgesamt dem Schutzbereich dem Artikel 5 Absatz 1 GG.
Die Ankündigung, an die Öffentlichkeit zu gehen, falls die Arbeitgeberin an der so empfundenen Überwachung festhalten werde, sei keine widerrechtliche Drohung.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe ausdrücklich darauf erkannt, dass sogar Strafanzeigen gegen die Arbeitgeberin, mit dem Ziel, Missstände in Unternehmen oder Institutionen offenzulegen grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutze für Menschenrechte und Grundfreiheiten falle. Allerdings sei die Anzeige von Missständen zunächst an Vorgesetzte oder andere Personen im Unternehmen zu richten. Nur wenn die Anzeige von Missständen innerhalb des Unternehmens unpraktikabel sei, dürfe die Öffentlichkeit informiert werden.
Diesen Weg habe der Pfleger beschritten, indem er zunächst innerhalb des Unternehmens informierte und nur für den Fall der Erfolglosigkeit die Information der Öffentlichkeit ankündigte. Damit habe er angemessen auf die Interessen der Arbeitgeberin Rücksicht genommen, zumal er Gesprächsbereitschaft signalisierte.
Dass die Arbeitgeberin eine Gesamtzusage machen solle, um Kosten zu sparen und das Gesicht zu wahren, sei als Aussage zu verstehen, die kollektiven Interessen der Belegschaft und nicht seine eigenen individuellen Interessen zu vertreten. Nur eine Äußerung, die ausschließlich dem individuellen Interesse diente, wäre als widerrechtliche Drohung Grundlage für eine außerordentliche Kündigung.
Der Pfleger habe sich auch nicht rechtlich unzulässig mit seiner Aufforderung in der E-Mail verhalten, als er forderte ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen eine höhere Eingruppierung und Vergütung zukommen zulassen. Die Kundgabe dieser Auffassung sei legitim. Ihm stünde es auch zu, seine vermeintlichen Ansprüche auf dem Rechtsweg zu verfolgen. Auch die Aufforderung an seine Kollegenschaft, gleich ihm Nachzahlungen einzufordern, unterliege dem Recht der freien Meinungsäußerung und sei die Kundgabe der Auffassung, dass auch diese Ansprüche hätten.
Das Rechtsmittel der Beschwerde gegen dieses Urteil wurde nicht zugelassen.