Teilweiser Interessenausgleich bei Betriebsänderung ist unwirksam
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.03.2016, Aktenzeichen 2 AZR 182/15
Ein Interessenausgleich ist nur dann wirksam, wenn er den vollen Umfang einer Betriebsänderung erfasst. Es ist nicht möglich, den Interessenausgleich auf einen Teil der Betriebsänderung zu beschränken.
Eine Maschinenbedienerin war seit 16 Jahren in einem Betriebsteil des Unternehmens tätig. Basierend auf einem Umsatzrückgang sollten 38 Arbeitsplätze im Betriebsteil entfallen. Mit dem Betriebsrat wurde über den Wegfall der Arbeitsplätze ein Interessenausgleich mit Sozialauswahl vereinbart. Für die Sozialauswahl wurde eine Liste der 38 Mitarbeiter erstellt, die ihren Arbeitsplatz verlieren sollten.
Die Arbeitgeberin hörte schriftlich den Betriebsrat zur Kündigung der Maschinenbedienerin an. Sie teilte mit, dass eine ordentliche Beendigungskündigung geplant sei. Der Betriebsrat werde aber vorsorglich auch zu einer ordentlichen Änderungskündigung angehört. Die Änderungskündigung sollte wirksam werden, falls sich die noch nicht zusagbare Beschäftigung auf einem nicht gleichwertigen Arbeitsplatz innerhalb des Betriebes bzw. Unternehmens in Absprache mit dem Betriebsrat ergeben sollte.
In einem Betriebsteil könnten 4 von Leiharbeitnehmern besetzte Stellen mit Mitarbeitern besetzt werden, die vom Arbeitsplatzwegfall betroffen sind. Die Auswahl der Mitarbeiter würde nach den Kriterien des Sozialplans erfolgen. Sollte die Maschinenbedienerin das Angebot für einen Wechsel in die Transfergesellschaft ablehnen, und käme nach den Auswahlrichtlinien für die Weiterbeschäftigung auf einer der 4 Stellen in Betracht, so würde ihr diese Stelle im Rahmen einer Änderungskündigung unter Einhaltung der Kündigungsfrist angeboten.
Der Betriebsrat erwiderte schriftlich, dass er sich nicht zur beabsichtigten Kündigung der Maschinenbedienerin äußere.
Die Maschinenbedienerin lehnte den Wechsel in die Transfergesellschaft ab. Daraufhin erhielt sie die ordentliche Kündigung von der Arbeitgeberin.
Gegen die Kündigung erhob die Maschinenbedienerin Klage vor dem Arbeitsgericht. Sie hielt ihre Kündigung für sozial ungerechtfertigt. Ihr Arbeitsplatz sei nicht weggefallen. In einer Abteilung des Betriebes hätte die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung auf der Stelle eines Vorarbeiters bestanden.
Die soziale Auswahl sei grob fehlerhaft gewesen. Die Arbeitgeberin habe den kündigungsschutzrechtlichen Betriebsbegriff verkannt. Sie beantragte festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung nicht aufgelöst wurde.
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Berufung der Arbeitgeberin zurück. Mit ihrer Revision vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte die Arbeitgeberin weiterhin die Klageabweisung.
Das BAG wies die Revision als unbegründet ab. Die Unwirksamkeit stütze sich auf § 1 Absatz 2 Satz 1 des Kündigungsschutzgesetzes (KschG). Hingegen könne sich die Unwirksamkeit nicht auf § 102 Absatz 1 Satz 3 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) mit der Begründung einer Anhörung auf Vorrat stützen.
Der Betriebsrat ist unter Angabe der Gründe vor jeder Kündigung anzuhören. Das gilt auch bei Vorliegen eines Interessenausgleiches. Eine Kündigung ohne Anhörung des Betriebsrates ist unwirksam.
Die Unwirksamkeit kommt auch dann zustande, wenn der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß informiert wurde. Es müssen die tatsächlichen Gründe für die Kündigung mitgeteilt werden. Wurde ein bereits aus Sicht der Arbeitgeberin unvollständiger oder falscher Sachverhalt mitgeteilt, ist die Kündigung unwirksam.
Stehen die Kündigungsüberlegungen noch nicht vollständig fest, würde es sich um eine unzulässige Anhörung auf Vorrat handeln. Der Betriebsrat könnte dann nicht die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe überprüfen, um sich eine eigene Meinung zu bilden und eventuell auf die Willensbildung der Arbeitgeberin Einfluss nehmen.
Steht der Sachverhalt der Kündigung aber generell fest und es ist nur die Frage offen, ob es sich um eine Beendigungskündigung oder eine Änderungskündigung handeln werde, widerspreche dies nicht dem Schutzzweck von § 102 Absatz 1 BetrVG. Die Willensbildung der Arbeitgeberin sei als abgeschlossen zu bewerten. Deshalb liege im vorliegenden Fall keine Anhörung auf Vorrat vor.
Im Zusammenhang mit der erfolgten Sozialauswahl blieb der Arbeitgeberin kein Spielraum für den Ausspruch einer Beendigungskündigung oder Änderungskündigung. Dem Betriebsrat seien alle für die Entscheidung vorliegenden Kriterien bekannt gewesen.
Die Kündigung sei jedoch nach § 1 Absatz 2 Satz 1 KschG unwirksam. Die Kündigung sei nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse gedeckt. Im Kündigungsschutzgesetz wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse gedeckt ist, wenn im Rahmen eines Interessenausgleiches die zu kündigenden Arbeitnehmer namentlich bezeichnet wurden. Die Vermutung habe die Arbeitgeberin jedoch substantiell darzulegen und zu beweisen. Dazu gehöre das Vorliegen einer Betriebsänderung nach § 111 Satz 1 BetrVG die für die Kündigung ursächlich sein muss.
Als Betriebsänderung sei der von der Arbeitgeberin dargelegte unternehmerische Personalabbau in mehreren Wellen anzusehen. Besteht für den schrittweisen Personalabbau ein einheitlicher Plan, sei der Abbau in einer Einheit zu betrachten. Selbst wenn sich der Personalabbau über mehrere Jahre erstrecke. Die Entlassungswellen müssten nicht in einem engen zeitlichen Zusammenhang stehen.
Die Arbeitgeberin habe nach ihren eigenen Angaben einen Abbau von insgesamt 192 Vollzeitarbeitsplätzen über einen Zeitraum von 3 Jahren in mehreren zahlenmäßig klar definierten Schritten geplant. Sie habe lediglich ihre ursprünglich gefasste Absicht, Stellenabbau, der nicht durch Freiwilligkeit erzielt werden kann, durch Kündigungen zu realisieren, in Zahlen gefasst.
Der Interessenausgleich wurde nicht für den gesamten Personalabbau abgeschlossen, sondern nur für den Teil, der mit Kündigungen realisiert wurde. Für die vorher durchgeführten Maßnahmen der Betriebsänderung in Form eines Personalabbaus wurde kein Interessenausgleich vereinbart. Damit würden die Anforderungen des § 1 Abs. 5 KschG nicht erfüllt. Die Betriebsänderung müsse in vollem Umfang Gegenstand der Verständigung zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat sein. Die Auslegung des Gesetzes ergebe, es genüge nicht, den Interessenausgleich nur über einen Teil des geplanten Stellenabbaus abzuschließen.
Betriebsräte sollen verstärkt in die Verantwortung für Betriebsänderungen im Sinne von § 111 BetrVG einbezogen werden und erhöhten Einfluss auf die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidungen sowie auf die Einzelheiten der Betriebsänderung gewinnen. Es fehle jedoch an der Einflussmöglichkeit, wenn die Arbeitgeberin Teile der Betriebsänderung ohne Mitwirkung des Betriebsrats durchführe.
Die Arbeitgeberin sei ihrer Beweislast nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KschG nicht nachgekommen. Die Kündigung könne nicht losgelöst vom § 1 Abs. 5 Satz 1 KschG als sozial gerechtfertigt eingestuft werden.
Aus den genannten Gründen war die Kündigung sozial ungerechtfertigt und damit unwirksam.