Billiges Ermessen bei betrieblichem Eingliederungsmanagement
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2016, Aktenzeichen 15 Sa 76/15
Überschreitet die Arbeitgeberin mit ihrer Anweisung die Grenzen billigen Ermessens, kann eine innerbetriebliche Umsetzung unwirksam sein.
Ein Maschinenbediener arbeitete seit 1994 in Wechselschicht und seit 2005 in Nachtschicht. Wegen eines Streits mit einem anderen in Nachtschicht eingesetzten Kollegen wurde der Maschinenbediener in den Monaten September und Oktober 2014 für jeweils einige Tage nicht in der Nachtschicht eingesetzt.
Über einen Zeitraum von mehr als 2 Monaten war der Maschinenbediener wegen einer Therapiemaßnahme zur Begegnung einer Suchtmaßnahme, arbeitsunfähig. Ab dem 10.März 2015 war der Maschinenbediener wieder in Nachtschicht tätig. Am 25 März 2015 fand ein Krankenrückkehrgespräch statt. Das Gespräch sei von der Arbeitgeberin nicht als Maßnahme des betrieblichen Eingliederungsmanagements beabsichtigt und gestaltet gewesen.
Im Ergebnis dieses Gesprächs sei noch am selben Tag die Anordnung erfolgt, der Maschinenbediener solle ab dem 07.04.2015 seine Arbeit in der Wechselschicht (Früh- und Spätschicht) erbringen. Der Betriebsrat erhielt dazu eine Umsetzungsbenachrichtigung. Der Maschinenbediener sei wegen seiner hohen Krankheitsrate in der Wechselschicht leichter ersetzbar als in der Nachtschicht.
Am 07. April 2015 legte der Maschinenbediener Klage beim Arbeitsgericht ein und beantragte die Feststellung, ihn zu unveränderten Bedingungen weiterhin in der Nachtschicht zu beschäftigen. In einem Hilfsantrag forderte er festzustellen, dass die Umsetzung rechtswidrig und rechtsunwirksam sei. Die Änderung der Arbeitszeiten durch den Wechsel von der Nachtschicht zur Wechselschicht sei vom Direktionsrecht nicht gedeckt und damit rechtsunwirksam, da er erhebliche finanzielle Einbußen durch den Wegfall von Zuschlägen und Zulagen erleide, sowie in Hinblick auf die Umstellung seiner Lebensgewohnheiten. Die Arbeitgeberin habe die Bedürfnisse des Maschinenbedieners, insbesondere seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse und seine sozialen Lebensverhältnisse und Unterhaltspflichten, nicht berücksichtigt. Objektiv seien die Fehlzeiten nicht durch die Nachtschicht verursacht.
Die Äußerungen des Geschäftsführers im Krankenrückkehrgespräch hätten gezeigt, man habe ihn disziplinieren und ihm klarmachen wollen, dass er nachteilig behandelt werde, falls krankheitsbedingte Fehlzeiten aufträten. Das Argument der Arbeitgeberin, in der Nachtschicht seien Mitarbeiter schwerer zu ersetzen spreche nur dafür, ihn weiterhin in der Nachtschicht einzusetzen.
Der Betriebsrat sei zu der personellen Einzelmaßnahme im Sinne von § 99 Absatz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) nicht ordnungsgemäß angehört und beteiligt worden.
Die Arbeitgeberin argumentierte, die Maßnahme sei durch das Direktionsrecht gedeckt. Der Arbeitsvertrag beschränke sich nicht auf den Einsatz in der Nachtschicht und lasse die Einteilung zur Wechselschicht zu. Arbeitswissenschaftlich sei erwiesen, dass mehr als drei Nachtschichten hintereinander gesundheitsschädlich seien. Der Biorhythmus kehre sich nicht um. Schlafdefizit und Unfallgefahr nähmen mit der Länge der Nachtschichtphase zu. Ein Vertreter der Arbeitgeberin habe im Rückkehrgespräch geäußert, dass dem Maschinenbediener die Nachtschicht gesundheitlich nicht gut tue. Nach Angaben des Betriebsarztes sei es bei einem so hohen Stand an Fehlzeiten eine Option zu prüfen, ob ein Zusammenhang mit der Nachtschicht bestehe.
Die Arbeitgeberin habe im Interesse des Maschinenbedieners gehandelt, die Gesundheitsvorsorge stehe im Vordergrund. Zeitzuschläge würden auch in der Wechselschicht gezahlt, sodass die finanziellen Interessen des Maschinenbedieners berücksichtigt würden. Es sei die Erwägung der Arbeitgeberin gewesen den Maschinenbediener in der Wechselschicht einzusetzen, bis er sich gesundheitlich stabilisiert habe.
Die Beteiligung des Betriebsrats sei nicht notwendig gewesen, da es sich um keine personelle Einzelmaßnahme nach § 99 Absatz 1 BetrVG gehandelt habe. Es handele sich um einen identischen Arbeitsplatz, der nur zu einer anderen Zeit ausgefüllt werde.
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Allein aus dem Umstand, dass der Maschinenbediener über einen längeren Zeitraum in der Nachtschicht eingesetzt wurde, dürfe er nicht nach Treu und Glauben auf einen Verpflichtungswillen der Arbeitgeberin für die Zukunft schließen. Das geschützte Interesse der Arbeitgeberin liege in den Fehlzeiten des Maschinenbedieners und den damit verbundenen Problemen einen Ersatz zu finden. Tagsüber sei es leichter, auf Fehlzeiten zu reagieren. Die Arbeitgeberin habe ein berechtigtes Interesse, zu überprüfen, ob die Erkrankungen ursächlich auf die bisherige Lage der Arbeitszeit in der Nachtschicht zurückzuführen seien.
Der Maschinenbediener legte gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein.
Die Maßnahmen der Arbeitgeberin entsprächen nicht billigem Ermessen nach § 315 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Die Fehlzeit Ende 2014 sei durch eine ärztlich angeordnete Suchttherapiemaßnahme entstanden. Es bestehe kein Zusammenhang mit seinem Arbeitsplatz oder den Arbeitszeiten. Er entbinde seine Ärzte von der ärztlichen Schweigepflicht. Seine Behandlung sei mit der damaligen Therapiemaßnahme abgeschlossen. Sein gesundheitlicher Zustand habe sich so verbessert, dass im Jahr 2016 nur zwölf krankheitsbedingte Fehltage angefallen seien. Das liege jedoch nicht an der Versetzung ohne Rechtsgrund in die Wechselschicht, welche dieselben gesundheitlichen Belastungen mit sich bringe wie die Nachtschicht.
Die Versetzung sei eine völlig untaugliche Maßnahme zur Reduzierung von Fehlzeiten. Die Arbeitgeberin habe es versäumt, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 84 Absatz 2 SGB IX (Sozialgesetzbuch 9) durchzuführen. Ohne die Umsetzungsmaßnahme hätte er nicht nur alle zwei Wochen mittwochs, sondern wöchentlich an einer nachstationären, ambulanten Entwöhnungsmaßnahme teilnehmen können.
Die Arbeitgeberin beantragte, die Klage zurückzuweisen. Sie habe kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt, da sie keine Kündigung in Erwägung gezogen habe. Die Arbeitgeberin habe mit der Versetzung durch eine relativ geringfügige Maßnahme versucht, den Gesundheitszustand des Maschinenbedieners zu stabilisieren. Dafür habe sie nicht den Hausarzt befragen oder ein Sachverständigengutachten einholen müssen.
Das LAG entschied, die Berufung sei begründet. Der Maschinenbediener könne verlangen, in der Nachtschicht eingesetzt zu werden. Die Weisung der Arbeitgeberin vom 25.03.2015 stehe dem nicht entgegen.
Erweist sich eine von der Arbeitgeberin veranlasste Versetzung als unwirksam, hat der Arbeitnehmer Anspruch auf seine bisherige Tätigkeit am bisherigen Ort. Solange die Arbeitgeberin nicht erneut von ihrem Weisungsrecht Gebrauch macht oder eine wirksame Freistellung von der Arbeit ausspricht, bleibt es bei der bisher zugewiesenen Arbeitsaufgabe am bisherigen Arbeitsort. Der Arbeitnehmer habe einen dementsprechenden Beschäftigungsanspruch.
Der Maschinenbediener könne weder aus dem Arbeitsvertrag noch unter Berufung auf einen angeblichen Verstoß gegen § 99 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) beanspruchen, zukünftig in der Nachtschicht eingesetzt zu werden. Er kann die Beschäftigung in der Nachtschicht aber verlangen, da die Arbeitgeberin bei der Ausübung ihres Weisungsrechts die Grenzen billigen Ermessens (§ 106 GewO, § 315 BGB) überschritten habe. Es fehle an dem erforderlichen berechtigten Interesse der Arbeitgeberin an der Änderung der Lage der Arbeitszeit des Maschinenbedieners.
Die Arbeitgeberin kann eine im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht im Einzelnen nach Zeit, Art und Ort bestimmen. Das gilt auch für die Lage der Arbeitszeit. Dieses Recht darf nur nach billigem Ermessen im Sinne von § 315 Abs. 3 BGB ausgeübt werden. Fehlt es an einer Festlegung der Arbeitszeit durch Arbeitsvertrag, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz ergibt sich der Umfang der arbeitgeberischen Weisungsrechte aus § 106 GewO (Gewerbeordnung). Die Weisung unterliegt dann einer Ausübungskontrolle.
Für die Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen sind die wesentlichen Umstände des Einzelfalls abzuwägen und die beiderseitigen Interessen angemessen zu berücksichtigen. Die Abwägung beiderseitiger Interessen hat nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte und Zumutbarkeit zu erfolgen. Es sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, wie etwa die Vorteile einer Regelung, die Risikoverteilung zwischen den Parteien, die beiderseitigen Bedürfnisse, außervertragliche Vor- und Nachteile, Vermögens- und Einkommensverhältnisse und soziale Lebensverhältnisse, wie Unterhaltspflicht und familiäre Verpflichtungen.
Beruht die Weisung auf einer unternehmerischen Entscheidung, so kommt dieser ein besonderes Gewicht zu. Andererseits führt eine unternehmerische Entscheidung nicht dazu, dass die Abwägung mit Interessen des Arbeitnehmers von vornherein ausgeschlossen wäre und sich die Belange des Arbeitnehmers nur in dem von der Arbeitgeberin durch die unternehmerische Entscheidung gesetzten Rahmen durchsetzen könnten.
Die Zuweisung der Wechselschicht durch die Weisung vom 25.03.2015 scheitere aber an der Ausübungskontrolle. Die Arbeitgeberin hatte zum Zeitpunkt der Ausübung ihres Direktionsrechts kein als berechtigtes Interesse anzuerkennendes Interesse an der Umsetzung des Klägers in die Wechselschicht. Sie berief sich ausschließlich auf ihre Erwartung, die Maßnahme der Umsetzung werde sich positiv auf den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit des Klägers auswirken. Eine an eine solche Erwartung geknüpfte Maßnahme durfte sie zu diesem Zeitpunkt deshalb nicht umsetzen, weil sie ein solches Interesse gegenüber dem Kläger nicht ohne vorheriges, ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement (oder das Angebot eines solchen) ins Feld führen durfte.
§ 84 Abs. 2 SGB IX regelt in Satz 1, wenn ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist, hat die Arbeitgeberin mit der zuständigen Interessenvertretung und mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten zu erörtern, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Dieses Vorgehen sei keine freiwillige Option für die Arbeitgeberin. Sie sei verpflichtet, dem Arbeitnehmer ein solches betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten. Gemäß § 84 Abs. 2 Satz 3 SGB IX sei die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen.
Eine Kündigungsabsicht der Arbeitgeberin sei keine Voraussetzung für die Erforderlichkeit eines betrieblichen Eingliederungsmanagements. Dieses ist seiner ganzen Ausrichtung und Zielsetzung nach präventiv. Es soll bereits in einem frühen Stadium verhindern, dass sich ein Arbeitsverhältnis auf eine krankheitsbedingte Kündigung zubewegt.
Die Arbeitgeberin hätte darlegen müssen, weshalb die von ihr gewählte Methode dem betrieblichen Eingliederungsmanagement gleichwertig sein soll. Alternativ hätte sie sonstige betriebliche Interessen darlegen können, die jedoch objektiv nicht bestanden.
Die Umsetzung in die Wechselschicht erfolgte ohne Einschränkung, ein gleichzeitiges betriebliches Eingliederungsmanagement habe die Arbeitgeberin nicht versucht.
Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde abgeändert und dem Beschäftigungsantrag stattgegeben.
Die Revision zu diesem Urteil wurde zugelassen.