Betriebsratswahl nur in Ausnahmefällen nichtig
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.11.2003, Aktenzeichen 7 ABR 24/03
Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzunehmen, in denen gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl in so hohem Maße verstoßen worden ist, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr vorliegt. Es muss ein sowohl offensichtlicher als auch besonders grober Verstoß gegen Wahlvorschriften vorliegen.
Arbeitgeberin und Betriebsrat stritten über die Wirksamkeit einer erstmals Anfang Januar 2002 durchgeführten Betriebsratswahl.
Drei Mitarbeiter versandten eine Einladung zur Betriebsratswahl per E-Mail, an der auch der Geschäftsführer teilnahm. Es wurde ein dreiköpfiger Wahlvorstand gewählt. Der Wahlvorstand fasste den Beschluss, die Betriebsratswahl im vereinfachten Wahlverfahren entsprechend dem Gesetz zur Reform der Betriebsverfassung vom 23.07.2001 durchzuführen. In der Versammlung wurde eine Wählerliste erstellt sowie Wahlvorschläge entgegen genommen. Im Januar 2002 informierte der Wahlvorstand per E-Mail über die bevorstehende Betriebsratswahl. In der E-Mail wurden gebeten, auch diejenigen Mitarbeiter zu informieren, die nicht per E-Mail erreichbar sein.
An der Betriebsratswahl nahmen 48 von 59 wahlberechtigten Mitarbeitern teil. Darunter auch Mitarbeiter, die nicht über einen E-Mail Account verfügen. Es wurden fünf Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder gewählt. Das Wahlergebnis mit den Namen der Mitglieder teilte der Wahlvorstand drei Tage später schriftlich der Arbeitgeberin mit.
Im August 2002 fand erneut eine Betriebsratswahl statt. Der im Januar 2002 gewählte Betriebsrat trat nicht zurück.
Im Februar 2002 machte die Arbeitgeberin die Unwirksamkeit der Betriebsratswahl vom Januar 2002 vor dem Arbeitsgericht geltend. Die Arbeitgeberin hielt die Betriebsratswahl wegen der Vielzahl von Fehlern im Wahlverfahren für nichtig. Sie beantragte, die Betriebsratswahl für unwirksam zu erklären. Der Betriebsrat hingegen ging davon aus, die Wahl sei ordnungsgemäß durchgeführt worden. Jedenfalls seien mögliche Mängel nicht so schwerwiegend, dass ein grober und offensichtlicher Verstoß gegen wesentliche Grundsätze des Wahlrechts vorläge.
Das Arbeitsgericht stellte die Nichtigkeit des Wahlergebnisses fest. Das Landesarbeitsgericht (LAG) wies die Beschwerde des Betriebsrats gegen das Urteil des Arbeitsgerichtes zurück. Beim Bundesarbeitsgericht (BAG) legte der Betriebsrat Rechtsbeschwerde ein.
Das BAG stellte fest, die Rechtsbeschwerde sei teilweise begründet. Die Betriebsratswahl vom Januar 2002 sei für unwirksam zu erklären. Die Wahl sei jedoch nicht nichtig (ungültig).
Es könne selbst aufgrund der Vielzahl von Verstößen gegen Wahlvorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. 9. 2001 (Bundesgesetzblatt I, 2518) und der ersten Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes (Wahlordnung – WO) vom 11. 12. 2001 (Bundesgesetzblatt I, 3494) nicht angenommen werden, bei der Wahl sei gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl in so hohem Maße verstoßen worden, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr vorliege.
Bei der Wahl wurde jedoch gegen eine Vielzahl wesentlicher Vorschriften über das Wahlverfahren verstoßen.
Die drei nach § 17 III BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) berechtigten einladenden Arbeitnehmerinnen hätten es versäumt, dafür Sorge zu tragen, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Betriebsversammlung nach § 17 II BetrVG eingeladen worden sind.
Es gehöre es zu den wesentlichen Grundsätzen einer Wahl, dass die Wahlberechtigten von der Wahlversammlung, ihrem Ort und ihrer Zeit Kenntnis erhalten. Es müsse in jedem Fall sichergestellt werden, dass diese Information alle Wahlberechtigten erreicht.
Die Voraussetzungen für ein vereinfachtes Wahlverfahren im Kleinbetrieb hätten nicht vorgelegen, da es sich mit mehr als 50 wahlberechtigten Arbeitnehmern nicht um einen Kleinbetrieb handele. In Betrieben mit 51 bis 100 Mitarbeitern könne das vereinfachte Wahlverfahren angewendet werden, wenn dies zwischen Arbeitgeberin und Wahlvorstand vereinbart wurde. Wahlvorstand und Arbeitgeberin hätten jedoch weder ausdrücklich noch konkludent (durch schlüssiges Verhalten) eine Vereinbarung getroffen. Das Schweigen der Geschäftsführer in der Betriebsversammlung sei keine Willenserklärung.
Entgegen der Wahlordnung seien die Wählerlisten nicht getrennt nach Geschlechtern aufgestellt worden. Im Wahlausschreiben seien unzureichende Angaben zur Wahl gemacht worden. Das Schreiben sei nicht im Betrieb ausgehängt worden, sondern lediglich als E-Mail verteilt. Die vom Wahlvorstand als gültig anerkannten Wahlvorschläge seien nicht in der vom Gesetz vorgesehenen Weise bekannt gemacht worden.
Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Wahlergebnis zwingend dasselbe gewesen wäre, wenn der Wahlvorstand das Regelverfahren nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt und dabei insbesondere die Bestimmungen des § 2 I WO (Wahlordnung) und § 3 WO beachtet hätte. Dennoch sei die Betriebsratswahl nicht nichtig.
Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl sei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzunehmen, in denen gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl in so hohem Maße verstoßen wurde, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr vorliege. Es müsse ein sowohl offensichtlicher als auch besonders grober Verstoß gegen Wahlvorschriften vorliegen.
Keiner der vom Landesarbeitsgericht (LAG) festgestellten Mängel hätte für sich zur Nichtigkeit der Wahl geführt. Das LAG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass nach der Gesamtwürdigung der aufgezeigten Mängel nicht mehr von einem Wahlakt im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes gesprochen werden könne.
Die frühere Rechtsprechung beruhte auf der Annahme, von einer dem Gesetz entsprechenden Wahl, im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes dem äußeren Anschein nach, könne dann nicht mehr die Rede sein, wenn nach einer Gesamtwürdigung des in Betracht kommenden Prozessstoffs insgesamt gesehen die Verstöße gegen die Vorschriften des Wahlverfahrens so offensichtlich und schwerwiegend seien, dass das Wahlverfahren nicht mehr als ein nach dem Gesetz durchgeführter Wahlakt angesehen werden könne.
Die Gesamtwürdigung, eine Vielzahl von Verstößen gegen Wahlvorschriften könne zur Feststellung der Nichtigkeit der Betriebsratswahl führen, sei mit den Anforderungen, die an die Nichtigkeit einer Wahl zu stellen sind, jedoch nicht vereinbar.
Die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl sei im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen. Grundsätzlich sei auch ein nicht ordnungsgemäß gewählter Betriebsrat bis zum Ablauf der regelmäßigen Amtszeit mit allen betriebsverfassungsrechtlichen Befugnissen im Amt. Dies diene der Funktionsfähigkeit des Betriebsrats und schützt das Vertrauen – auch der Belegschaft – in die Gültigkeit der vom Betriebsrat im Rahmen seiner Geschäftsführung vorgenommenen Handlungen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sei nur geboten, wenn bei der Wahl des Betriebsrats so grob und offensichtlich gegen Wahlvorschriften verstoßen wurde, dass auch nur von dem Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr gesprochen werden kann und dies jedem mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Dritten sofort ohne Weiteres erkennbar sei.
Nur in diesem Ausnahmefall, in dem für jeden offenkundig ist, dass ein wirksam gewählter Betriebsrat nicht besteht, sei die Wahl von Anfang an nichtig. Davon könne bei einer erforderlichen, bewertenden Gesamtwürdigung ebenso wenig ausgegangen werden wie bei einer erst durch Beweisaufnahme zu ermittelnden Tatsachenfeststellung.
Handele es sich bei den einzelnen Verstößen um Mängel, die jeder für sich genommen zwar die Anfechtung der Betriebsratswahl rechtfertigen, nicht aber die Wahl als nichtig erkennen lassen, so könne weder die addierte Summe der Fehler noch eine Gesamtwürdigung zur Nichtigkeit führen.
Die bisher insoweit vereinzelt gebliebene Entscheidung des BAG vom 27. 4. 1976 enthielt keine Maßstäbe für die Gesamtwürdigung, erklärte auch nicht, wie groß die Anzahl der Mängel und wie schwerwiegend die Verletzungen sein mussten, um in einer Gesamtwürdigung zur Feststellung der Nichtigkeit zu gelangen. Damit konnten Betriebspartner, die durchaus Fehler bei der Betriebsratswahl erkannt hatten, sie aber als nicht schwerwiegend hingenommen hatten, auch nach Ablauf der Anfechtungsfrist nicht ausschließen, dass sich der Andere oder Dritte bei gegebenem Anlass (z.B. bei der fehlerhaften Anhörung des Betriebsrats oder bei der Anwendbarkeit von Betriebsvereinbarungen) auf die Nichtigkeit der Wahl im Wege einer Gesamtwürdigung berufen würde.
Dieser Schwebezustand vertrage sich nicht mit der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Betriebspartner und der verantwortungsvollen Ausübung von Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten durch den Betriebsrat.
Nur diejenigen Betriebsangehörigen, die einen oder mehrere grobe Verstöße ohne Weiteres erkennen, weil sie offensichtlich sind und die Wahl dennoch akzeptieren, müssten mit einem jederzeitigen Nichtigkeitsantrag oder einer entsprechenden Einwendung in einem anderen betriebsverfassungsrechtlichen Streit rechnen und gegebenenfalls die schwerwiegenden nachteiligen Folgen einer Nichtigkeitsfeststellung tragen.
Diese Änderung der Rechtsprechung im Jahr 2003 diente der Rechtsklarheit und damit der Rechtssicherheit.