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Wichtiger Grund bei außerordentlicher Kündigung

Wirksamkeit einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung mit sozialer Auslauffrist

Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 29.11.2019, Aktenzeichen 11 Sa 418/18

Liegt für eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist kein wichtiger Grund vor, ist die Kündigung unwirksam.

Einem Mitarbeiter, beschäftigt im Bereich Finanzen und Rechnungswesen eines großen internationalen Konzerns, war eine körperliche Schwerbehinderung mit einem Behinderungsgrad von 50% zuerkannt. Nach den geltenden tariflichen Regelungen war er ordentlich unkündbar. Zudem war er Ersatzmitglied des Betriebsrats und gegenüber zwei Kindern unterhaltsverpflichtet.

Die Arbeitgeberin entschied, administrative Aufgaben mehrerer Bereiche zusammenzufassen. Mit dem örtlichen Betriebsrat wurde dazu eine Betriebsvereinbarung „Interessenausgleich und Sozialplan“ abgeschlossen. Im Rahmen der Neuausrichtung wurde eine neue Gesellschaft gegründet, die weltweit für Gesellschaften des Mutterkonzerns Dienstleistungen erbringt. Die Neuausrichtung hatte einen Mitarbeiterabbau von 86 Stellen zur Folge. Parallel dazu wurden in der neuen Gesellschaft Stellen aufgebaut.

Für Mitarbeiter, die von der Betriebsveränderung betroffen waren aber kein Interesse daran hatten, gegen eine Abfindung den Betrieb zu verlassen oder eine Altersteilzeitvereinbarung oder einen vorgezogenen Renteneintritt anzunehmen, wurde zum Schutz vor nachteiligen Folgen ein betriebliches Clearingverfahren durchgeführt. Das Abkommen zum Clearingverfahren enthielt unter anderem nachfolgende Regelungen.

Entfällt die bisherige Tätigkeit eines Mitarbeiters ganz oder überwiegend, ist eine Kündigung durch die Arbeitgeberin nicht zulässig, wenn die Weiterbeschäftigung eines Mitarbeiters unter geänderten angemessenen Vertragsbedingungen auf einem anderen zumutbaren Arbeitsplatz im Konzern möglich ist und der Mitarbeiter dazu sein Einverständnis erklärt hat. Das gilt auch, falls für die Weiterbeschäftigung eine zumutbare Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahme nötig ist und der Mitarbeiter seine Zustimmung dafür erteilt hat. Für die Vermittlung auf freie Arbeitsplätze wird die soziale Schutzwürdigkeit der Bewerber betrachtet. Die Grundsätze zur Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung sind entsprechend anzuwenden.

Im Sozialplan wurde geregelt, dass Mitarbeitern, deren Arbeitsplatz entfällt, geeignete Stellen auf anderen freien Arbeitsplätzen angeboten werden, die sozial, funktionell, regional und zeitlich zumutbar sind. Kann nach Abschluss des notariellen Clearings keine geeignete und zumutbare Weiterbeschäftigung angeboten werden, wird der Vermittlungsprozess beendet.

Für den Mitarbeiter begann im Jahr 2014 eine dreijährige Clearingphase. Im Rahmen des Clearingverfahrens wurden ihm neun Stellenausschreibungen übermittelt. Er nahm an sieben Vorstellungsgesprächen teil. Die Fachbereiche lehnten ihn jeweils als nicht geeignet ab.

Nach Abschluss der dreijährigen Clearingphase hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung an und unterrichtete die Schwerbehindertenvertretung. Beide Arbeitnehmervertretungen widersprachen der beabsichtigten Kündigung. Das Integrationsamt erteilte hingegen seine Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung.

Daraufhin kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis des Mitarbeiters am 20. September 2017 außerordentlich aus betriebsbedingten Gründen mit sozialer Auslauffrist zum 31. März 2018.

Im Oktober 2017 erhob der Mitarbeiter Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht. Er beantragte die Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist beendet wird. Das Arbeitsverhältnis bestehe über den Kündigungstermin unverändert hinaus. Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens sei er zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen weiter zu beschäftigen.

Die Arbeitgeberin argumentierte, der Arbeitsplatz des Mitarbeiters sei an einen anderen Standort verlagert worden. Es bestehe keine Möglichkeit den Mitarbeiter anderweitig zu beschäftigen, trotz des dreijährigen Clearingverfahrens. Im Rahmen der Bewerbungsgespräche habe sich die Nichteignung bzw. mangelnde Motivation des Mitarbeiters erwiesen.

Nach Abschluss des Clearingverfahrens sei eine Sozialauswahl entbehrlich gewesen. Selbst wenn eine Sozialauswahl nach Abschluss des Clearingverfahrens für notwendig erachtet würde, könne sich diese nur auf den Personenkreis beziehen, der das Clearingverfahren durchlaufen habe. Den beiden anderen Mitarbeitern, die ebenfalls erfolglos aus dem Clearingverfahren ausschieden, sei ebenfalls gekündigt worden.

Das Arbeitsgericht gab dem Kündigungsschutz- und Weiterbeschäftigungsantrag statt. Die Arbeitgeberin sei zu einer betriebsbezogenen Sozialauswahl verpflichtet gewesen.

Gegen das Urteil legte die Arbeitgeberin Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Sie habe mit dem Clearingverfahren alle Möglichkeiten ausgeschöpft um eine Beendigungskündigung zu vermeiden. In den Clearingprozess würden nur Mitarbeiter aufgenommen, deren Arbeitsplatz als Folge einer Betriebsveränderung entfalle. Damit sei bereits eine Auswahl der von der Kündigung betroffenen Mitarbeiter erfolgt. Es widerspräche dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn die Arbeitgeberin Mitarbeitern im Zuge einer Sozialauswahl kündigen müsste, die selbst nicht von den Möglichkeiten eines Clearingverfahrens profitieren konnten. Die Teilnehmer des Clearingerfahrens seien bezüglich einer Kündigung nicht mehr mit den übrigen Mitarbeitern vergleichbar.

Das LAG entschied, das Arbeitsgericht habe dem Kündigungsschutz- und Weiterbeschäftigungsantrag zu Recht stattgegeben. Für die außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit sozialer Auslauffrist sei kein wichtiger Grund gegeben.

Eine auf betriebliche Gründe gestützte außerordentliche Kündigung mit einer – dann notwendig einzuhaltenden – Auslauffrist komme in Betracht, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung dauerhaft ausgeschlossen ist und dies dazu führe, dass die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für Jahre vergüten müsste, ohne dass dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüberstünde. Allerdings sei die Arbeitgeberin in diesem Fall in einem besonderen Maß verpflichtet zu versuchen, die Kündigung durch geeignete andere Maßnahmen zu vermeiden. Bestehe irgendeine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzusetzen, werde sie den Arbeitnehmer in der Regel entsprechend einzusetzen haben. Erst wenn alle denkbaren Alternativen ausscheiden, könne ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung vorliegen.

Die Darlegungslast liege bei der Arbeitgeberin. Sie habe von sich aus darzulegen, dass überhaupt keine Möglichkeit mehr besteht das Arbeitsverhältnis sinnvoll fortzusetzen. Dabei sind auch geänderte Bedingungen nach Umschulungsmaßnahmen mit einzubeziehen.

Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) sei nicht gegeben. Die Arbeitgeberin habe nicht aufgezeigt, dass dauerhaft keine Einsatzmöglichkeit für den Mitarbeiter bestand. Die erfolglose Durchführung des Clearingverfahrens im Falle einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung belege nicht, dass für den betroffenen Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigung keine denkbare Beschäftigungsmöglichkeit mehr bestehe.

Die erfolglose Durchführung des Clearingverfahren entbinde die Arbeitgeberin nicht ihrer Darlegungslast. Im Falle einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung habe sie trotz Durchführung des Clearingverfahrens von sich aus als Teil des “wichtigen Grundes” darzulegen, dass keine Möglichkeit mehr bestehe, das Arbeitsverhältnis – und sei es zu geänderten Bedingungen und nach entsprechender Umschulung und Umorganisation – sinnvoll fortzusetzen.

Das Clearingverfahren erstrecke sich jedoch nur auf freie, zu besetzende Arbeitsplätze. Die Arbeitgeberin war jedoch gehalten, auch solche Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für den Mitarbeiter zu versuchen, die eine Umorganisation und ggf. sogar das Freimachen gleichwertiger geeigneter Arbeitsplätze erfordern. Aus dem Vortrag der Arbeitgeberin sei nicht zu erkennen, ob solche Möglichkeiten ernsthaft geprüft wurden.  Im Gegenteil habe das Clearingverfahren gezeigt, dass Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vorhanden waren.

Auf Ablehnungsgründe wie fachliche Schwächen und Defizite sowie eine fehlende Servicebereitschaft und Kundenorientierung könne sich die Arbeitgeberin nicht berufen um damit das Fehlen jeglicher Beschäftigungsmöglichkeiten zu belegen. Es sei nicht ersichtlich, dass sich die Arbeitgeberin zusammen mit dem Fachbereich um Aufklärung hinsichtlich diese nicht näher bezeichneten Defizite sowie um Schulungsmaßnahmen bemüht hätte. Es gäbe keine Anhaltspunkte, dass diese Defizite nicht innerhalb einer zumutbaren Schulungsdauer hätten behoben werden können.

Es wäre von der Arbeitgeberin jedenfalls zu erwarten, dass sie sich in dieser konkreten Ablehnungssituation beim Fachbereich für den Mitarbeiter einsetzt. Selbst das vorgesehene Verfahren der Eskalation zur Überprüfung einer Entscheidung im Clearingprozess wurde nicht beschritten. Auch bei weiteren Bewerbungen zeigten die Ablehnungsgründe wie fehlende Englischkenntnisse, mangelnde Konfliktfähigkeit, fehlende Servicebereitschaft und Kundenorientierung, fehlendes Verhandlungsgeschick und sicheres Auftreten nicht, dass diese nicht durch Schulungsmaßnahmen behoben werden könnten.

An einem wichtigen Grund für die Kündigung mangele es auch deshalb, weil eine entsprechend § 1 Absatz 3 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) erforderliche Sozialauswahl unterblieben ist und die Arbeitgeberin nicht dargelegt hat, dass das Arbeitsverhältnis des Mitarbeiters auch bei fehlerfreier Sozialauswahl gekündigt worden wäre. Die Regelungen zur Sozialauswahl könnten weder durch einzelvertragliche noch durch kollektivrechtliche Vereinbarung außer Kraft gesetzt werden, weil sich eine solche Regelung zu Lasten anderer Arbeitnehmer auswirken würde. Das Clearingverfahren sei daher nicht geeignet, die Arbeitgeberin von der Verpflichtung zur Sozialauswahl zu entbinden. Dies würde zu Lasten derjenigen Arbeitnehmer gehen, die das Clearingverfahren erfolglos durchlaufen haben und denen nunmehr betriebsbedingt gekündigt werden soll.

Es habe auch keine Sozialauswahl vor dem Clearingverfahren stattgefunden. Es wurden lediglich Anzahl der Mitarbeiter und Arbeitsplätze festgelegt. Eine Festlegung oder Auswahl der zu kündigenden Personen unter sozialen Gesichtspunkten im Sinne von § 1 Absatz 3 KSchG ist nicht erfolgt. Die insoweit darlegungspflichtige Arbeitgeberin habe nicht aufgezeigt, dass sie auch bei ordnungsgemäß durchgeführter Sozialauswahl in jedem Fall das Arbeitsverhältnis des Mitarbeiters hätte kündigen müssen. Die Sozialauswahl sei nicht auf den Kreis der Mitarbeiter beschränkt, die das Clearingverfahren durchlaufen haben. Maßgeblich für die Sozialauswahl sei der Betrieb, dem der Mitarbeiter vor der Betriebsänderung zugeordnet war.

Für die Vergleichbarkeit der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer komme es darauf an, ob sie nach ihrem Arbeitsvertragsinhalt vergleichbar, d.h. austauschbar seien. Entscheidend sei, ob die Arbeitnehmer kraft Weisungsrechts mit den anderen Aufgaben beschäftigt werden könnten. Das Clearingverfahren definiere den arbeitsvertraglich geschuldeten Beschäftigungsinhalt nicht und sei für die Frage der Vergleichbarkeit der Mitarbeiter daher ohne Bedeutung. Ausgehend davon erstrecke sich die Sozialauswahl auf alle mit dem Mitarbeiter austauschbaren kaufmännischen Angestellten, die im Zeitpunkt der Kündigung dem Betrieb angehörten, dem der Mitarbeiter vor der Betriebsänderung zugeordnet war.

Die Arbeitgeberin habe weder dargelegt, dass in diesem Betrieb zum Zeitpunkt der Kündigung keine mit dem Mitarbeiter vergleichbaren Arbeitnehmer beschäftigt waren, noch habe sie dargelegt, dass die dort tätigen und mit dem Mitarbeiter vergleichbaren Arbeitnehmer sozial schutzwürdiger waren.

Die Kündigung vom 20. September 2017 sei zudem gemäß § 15 Absatz 1 Satz 2 KSchG unwirksam. Der Mitarbeiter war Ersatzmitglied des Betriebsrats und zuletzt am 19. Mai 2017 als Betriebsrat tätig. Zum Zeitpunkt der Kündigung unterlag er daher dem nachwirkenden Sonderkündigungsschutz. Ob im Falle des nachwirkenden Kündigungsschutzes von Ersatzmitgliedern in eng begrenzten Ausnahmefällen überhaupt eine außerordentliche betriebsbedingte Beendigungskündigung zulässig ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn diese wäre nach obigen Ausführungen jedenfalls unwirksam.

Der vorliegend geltend gemachte allgemeine Weiterbeschäftigungsantrag gemäß §§ 611, 613 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) in Verbindung mit § 242 BGB sei auch begründet. Die Kündigung vom 20. September 2017 sei unwirksam. Die Arbeitgeberin habe in der Berufungsinstanz kein Interesse geltend gemacht, welches das Interesse des Mitarbeiters an einer Weiterbeschäftigung überwiegen würde.

Die Revision zu diesem Urteil wurde zugelassen, da das Clearingverfahren im Konzern der Arbeitgeberin intensiv betrieben werde und die betriebsbedingte Kündigung nach erfolglos durchlaufenem Konzern-Clearingverfahren Beispielcharakter für gegenwärtige und künftige Verfahren habe.