Keine Sozialplanleistungen für rentennahe Arbeitnehmer?
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.05.2019, Aktenzeichen 1 ABR 54/17
Sozialplanleistungen können bei rentennahen Arbeitnehmern stärker an den tatsächlich eintretenden wirtschaftlichen Nachteilen, die durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust und eine darauf zurückgehende Arbeitslosigkeit drohen, ausgerichtet werden. Die Betriebsparteien können Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausschließen, weil diese, ggf. nach Bezug von Arbeitslosengeld I, rentenberechtigt sind.
Die Arbeitgeberin entschied, ihren Terminalbetrieb im Hamburger Hafen zu Ende Dezember 2016 stillzulegen. Die daraufhin gebildete Einigungsstelle beschloss einen Sozialplan zur Milderung der wirtschaftlichen Nachteile infolge der Betriebsstilllegung. Von den im Sozialplan festgelegten Abfindungszahlungen wurden Mitarbeiter ausgeschlossen, die unmittelbar nach dem Ausscheiden oder im Anschluss an einen möglichen Bezug von Arbeitslosengeld 1 eine Altersrente aus der gesetzlichen Altersversicherung in Anspruch nehmen können, selbst wenn dies zu einer gekürzten Altersrente führt. Ausgenommen von dieser Regelung wurden Altersrenten für Frauen und schwerbehinderte Menschen.
Im November 2016 kündigte die Arbeitgeberin die Arbeitsverhältnisse der bei ihr noch verbliebenen ca. 60 Arbeitnehmer unter Einhaltung der tariflichen Kündigungsfrist zum Jahresende. Entsprechend Rahmentarifvertrag und Manteltarifvertrag entsprach die Kündigungsfrist bei Anwendung von Sozialplänen einen Monat zum Monatsende.
Im Oktober 2016 beantragte der Betriebsrat die Feststellung, dass der Spruch der Einigungsstelle über den Sozialplan von September 2016 unwirksam ist. Der Spruch überschreite die Grenzen des Ermessens der Einigungsstelle. Vorrangig älteren Arbeitnehmern drohe eine lange Arbeitslosigkeit. Ein Großteil der rentennahen Arbeitnehmer könnte nach Ablauf des Bezugs von Arbeitslosengeld nur eine Rente mit Abschlägen in Anspruch nehmen. Damit entstehe eine unzulässige Altersdiskriminierung.
Die Einigungsstelle habe auch nicht im Wege eines Bemessungsdurchgriffs auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des beherrschenden Unternehmens und des mittelbar herrschenden Gesellschafters abgestellt, sondern allein auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeitgeberin. Der Anspruch des Betriebsrats auf rechtliches Gehör sei ebenfalls verletzt worden.
Das Arbeitsgericht wies den Antrag des Betriebsrats ab. Das Landesarbeitsgericht (LAG) stellte die Unwirksamkeit von § 1 Absatz 2 des Sozialplans fest, soweit Arbeitnehmer ausgenommen werden, die nach dem Bezug von Arbeitslosengeld eine vorzeitige Altersrente in Anspruch nehmen können. Die weitergehende Beschwerde des Betriebsrats wies das LAG zurück. Vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) verfolgte der Betriebsrat seinen darüber hinaus gehenden Antrag mit einer Rechtsbeschwerde weiter. Die Arbeitgeberin hingegen verfolgte mit ihrer Rechtsbeschwerde die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Das BAG urteilte, die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin sei erfolgreich, die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats hingegen erfolglos. Der Feststellungsantrag des Betriebsrats sei in vollem Umfang unbegründet. Der Spruch der Einigungsstelle sei wirksam. Sie habe ihren Regelungsauftrag erfüllt und für die Betriebsänderung in Form der Betriebsstilllegung einen Sozialplan aufgestellt. Es sei zu betrachten ob ein angemessener Ausgleich im Rahmen billigen Ermessens nach § 112 Absatz 5 Satz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) erfolgte. Demnach würden die Regelungen des Sozialplans noch nicht die Untergrenze des § 112 Absatz 1 Satz 2 BetrVG verletzen.
Der Ausschluss rentennaher Arbeitnehmer von Abfindungszahlungen führe nicht zu einer Ermessenüberschreitung. Es werde auch nicht gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen.
Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sei die Prüfung, ob die Einigungsstelle einen angemessenen Ausgleich zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer gefunden habe. Eine vom Betriebsrat geforderte Überprüfung des Spruchs der Einigungsstelle auf alle Fälle des Ermessensmissbrauchs finde nicht statt. Es komme nicht darauf an, ob die Einigungsstelle, wie geltend gemacht, wesentliche Gesichtspunkte übersehen habe.
Im Rahmen billigen Ermessens müsse die Einigungsstelle unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls Leistungen zum Ausgleich oder zur Milderung wirtschaftlicher Nachteile vorsehen, dabei die Aussichten der betroffenen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen und bei der Bemessung des Gesamtbetrags der Sozialplanleistungen darauf achten, dass der Fortbestand des Unternehmens oder die nach der Durchführung der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze nicht gefährdet werden.
Der Bedarf für Ausgleich- und Milderung bemesse sich ausschließlich nach den entstehenden Nachteilen der Arbeitnehmer und nicht nach der Wirtschaftskraft des Unternehmens. Der wirtschaftlichen Vertretbarkeit des Sozialplans für die Arbeitgeberin komme lediglich eine Korrekturfunktion zu.
Im Ermessen der Einigungsstelle liege es, ob und in welchem Umfang Nachteile ausgeglichen oder gemildert werden sollen. Ein Sozialplan müsse die wirtschaftlichen Nachteile der Arbeitnehmer nicht notwendigerweise möglichst vollständig ausgleichen. Die Einigungsstelle könne auch von einem Nachteilsausgleich gänzlich absehen oder nach der Vermeidbarkeit der Nachteile unterscheiden. Sie sei ebenfalls nicht gehalten, alle denkbaren Nachteile zu entschädigen.
Die Einigungsstelle dürfe als Obergrenze kein größeres Gesamtvolumen des Sozialplans vorsehen als selbst für den vollen Ausgleich aller wirtschaftlichen Nachteile der Arbeitnehmer erforderlich ist. Zudem müsse sie grundsätzlich als Untergrenze mindestens Leistungen vorsehen, die noch als spürbare Milderung der wirtschaftlichen Nachteile angesehen werden können.
- 112 Absatz 1 Satz 2 BetrVG verlange eine substantielle Milderung der mit der Betriebsänderung einhergehenden wirtschaftlichen Nachteile. Andernfalls seien die sozialen Belange der Arbeitnehmer im Sinne von § 112 Absatz 5 Satz 1 BetrVG nicht hinreichend berücksichtigt.
Bei der Bestimmung der ausgleichsbedürftigen Nachteile komme der Einigungsstelle ein Beurteilungsspielraum zu. Dieser betreffe die tatsächliche Einschätzung der mit der Betriebsänderung für die betroffenen Arbeitnehmer verbundenen wirtschaftlichen Folgen, die sich regelmäßig nicht in allen Einzelheiten sicher vorhersagen ließen, sondern nur Gegenstand einer Prognose sein könnten. Eine pauschalierende und typisierende Bewertung der wirtschaftlichen Nachteile sei daher zumeist unumgänglich.
Die im Sozialplan vorgesehenen Leistungen stellten eine noch ausreichend substantielle Milderung der mit der Betriebsänderung verbundenen wirtschaftlichen Nachteile für die Arbeitnehmer dar. Damit komme es, entgegen der Ansicht des Betriebsrats, auf die Frage eines Bemessungsdurchgriffs nicht an.
Aus der Präambel des Sozialplans zeige sich, die den Arbeitnehmern durch die Betriebsstilllegung entstehenden Nachteile sollen nicht vollständig ausgeglichen, sondern nur gemildert werden.
Die Regelung in § 1 Absatz 2 des Sozialplans über den Ausschluss der Arbeitnehmer, die im Anschluss an einen möglichen Bezug von Arbeitslosengeld eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch nehmen können, lasse erkennen, dass die Abfindung keinen Ausgleich dafür darstellen soll, dass die betroffenen Arbeitnehmer nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses voraussichtlich keine unmittelbare Anschlussbeschäftigung finden und daher zunächst ein in Bezug auf ihr früheres Nettogehalt niedrigeres Arbeitslosengeld beziehen müssen.
Durch die Verwendung der altersabhängigen Faktoren sollen die unterschiedlichen Arbeitsmarktchancen der Arbeitnehmer gewichtet werden. Mit zunehmendem Alter sinken üblicherweise die Vermittlungschancen der Arbeitnehmer. Damit steige typischerweise die Dauer der Arbeitslosigkeit und die Gefahr, dass die betroffenen Arbeitnehmer nach Ablauf des jeweiligen Arbeitslosengeldbezugszeitraums noch nicht über eine anderweitige Beschäftigung und ein damit einhergehendes anderweitiges Einkommen verfügen.
Da die Einigungsstelle bei der Bemessung der den Arbeitnehmern entstehenden Nachteile pauschale und typische Annahmen zugrunde legen darf, konnte sie hinsichtlich der Aussichten der betroffenen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt gem. § 112 Absatz 5 Satz 2 Nummer 2 BetrVG nach deren Alter differenzieren. Hiergegen erhob der Betriebsrat auch keine Einwände.
Entgegen der Ansicht des Betriebsrats musste die Einigungsstelle nicht davon ausgehen, dass den älteren Arbeitnehmern nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes eine dauerhafte Arbeitslosigkeit drohen würde. Nach den Angaben der Bundesagentur für Arbeit belief sich die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit in Hamburg Mitte 2016 für über 55-jährige gewerbliche Arbeitnehmer in der Bau- und Transportgeräteführung auf etwa 11,7 Monate und im Güterumschlag auf etwa 17,6 Monate. Danach habe für die älteren Arbeitnehmer eine hinreichende Erfolgsaussicht auf eine anderweitige Beschäftigung bestanden.
Die Einigungsstelle habe vorliegend nicht ihr Regelungsermessen überschritten, indem sie die rentennahen Arbeitnehmer, die Gruppe der über 61-Jährigen, vollständig von Abfindungsleistungen ausgenommen hat. Anders als vom Betriebsrat angenommen, verstoße der Ausschluss im Streitfall nicht gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Absatz 1 BetrVG.
- 10 Satz 1 und Satz 2 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) gestatten die unterschiedliche Behandlung wegen des Alters, wenn diese objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist und wenn die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
Der in § 1 Absatz 2 des Sozialplans vorgesehene Ausschluss der Arbeitnehmer, die nach dem Ausscheiden oder einem möglichen Bezug von Arbeitslosengeld I eine gekürzte oder ungekürzte Altersrente in Anspruch nehmen können, von den Abfindungsleistungen bewirke deren unmittelbare Benachteiligung wegen des Alters im Sinne von § 3 Absatz 1 AGG.
Die Benachteiligung wegen des Alters sei jedoch nach § 10 Satz 3 Nr. 6 in Verbindung mit § 10 Satz 2 AGG gerechtfertigt. Die Betriebsparteien könnten Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausschließen, weil diese, ggf. nach Bezug von Arbeitslosengeld I, rentenberechtigt sind.
Nach § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG können Sozialplanleistungen entsprechend ihrer zukunftsbezogenen Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion bei „rentennahen“ Arbeitnehmern stärker an den tatsächlich eintretenden wirtschaftlichen Nachteilen, die durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust und eine darauf zurückgehende Arbeitslosigkeit drohen, orientiert werden. Durch diese Gestaltungsmöglichkeit kann das Anwachsen der Abfindungshöhe, das mit der Verwendung der Parameter Betriebszugehörigkeit und/oder Lebensalter bei der Bemessung der Abfindung zwangsläufig verbunden ist, bei abnehmender Schutzbedürftigkeit im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit zugunsten der jüngeren Arbeitnehmer begrenzt werden.
Es entspreche einem allgemeinen sozialpolitischen Interesse, dass Sozialpläne danach unterscheiden könnten, welche wirtschaftlichen Nachteile den Arbeitnehmern drohen, die durch eine Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz verlieren.
Die gewählte Sozialplangestaltung müsse geeignet sein, das mit § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG verfolgte Ziel tatsächlich zu fördern, und dürfe die Interessen der benachteiligten Altersgruppe nicht unverhältnismäßig stark vernachlässigen.
Gemessen an diesen Grundsätzen sei vorliegend die in dem Ausschluss von Sozialplanleistungen liegende unterschiedliche Behandlung der betroffenen Arbeitnehmer zulässig. Die Voraussetzungen des § 10 Satz 3 Nr. 6 Alt. 2 AGG lägen vor. Hierfür komme es nur darauf an, ob die vom Arbeitsplatzverlust betroffenen Arbeitnehmer wirtschaftlich abgesichert seien, etwa weil sie nach dem Bezug von Arbeitslosengeld rentenberechtigt sind. Damit seien nicht nur die Arbeitnehmer erfasst, die nach Ablauf des Arbeitslosengeldbezugs einen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente wegen Erreichens der Regelaltersrente haben, sondern auch diejenigen, die die Möglichkeit haben, eine Altersrente vorzeitig in Anspruch zu nehmen.
Der Ausschluss der betroffenen Arbeitnehmer von der Gewährung einer Abfindung sei notwendig, weil diese andernfalls entgegen dem Zweck der Sozialplanleistungen überproportional begünstigt worden wären. Die Abfindungsleistungen sollen dem Umstand Rechnung tragen, dass jüngere Arbeitnehmer bei einer über die Dauer des Arbeitslosengeldbezugs hinausgehenden fortdauernden Arbeitslosigkeit typischerweise auf die bedarfsabhängige Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II angewiesen sind. Die mit den Sozialplanleistungen verfolgte Überbrückungsfunktion bezwecke eine Milderung des hiermit verbundenen wirtschaftlichen Nachteils. Einen vergleichbaren Nachteil würden die rentennahen Arbeitnehmer im Sinne von § 1 Absatz 2 des Sozialplans nicht erleiden.
Die Einigungsstelle habe bei diesen Arbeitnehmern davon ausgehen können, dass sie selbst im Fall einer nach dem Bezug von Arbeitslosengeld fortbestehenden Arbeitslosigkeit durch die Rentenbezugsberechtigung für die Regelaltersrente und die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente ausreichend wirtschaftlich abgesichert sind. Einen darüberhinausgehenden Ausgleich der Abschläge für die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente musste die Einigungsstelle angesichts der begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialplanmittel und der den anderen Arbeitnehmern voraussichtlich entstehenden Nachteile nicht vorsehen.