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Mitgliederwahl nicht per Videokonferenz

Wahl von Mitgliedern der Arbeitnehmervertretungen nicht per Videokonferenz

Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 24.08.2020, Aktenzeichen 12 TaBVGa 1015/20

Da für die Wahlen in Vertreterpositionen oder von Ausschussmitgliedern durch die anwesenden Mitglieder der Arbeitnehmervertretung eine ausdrückliche Ausnahme von dem Anwesenheitsgrundsatz fehlt, ist von der Erforderlichkeit einer physischen Anwesenheit der Mitglieder zur Durchführung der Wahlen auszugehen.

Die Arbeitgeberin betreibt überregional Kliniken, insbesondere zur Rehabilitation. Der Gesamtbetriebsrat führte seit März 2020 seine Sitzungen in Form von Telefonkonferenzen durch. Vorsitzender und Stellvertreter des Gesamtbetriebsrats beschlossen, im August 2020 eine mehrtägige Ausschusssitzung des Gesamtbetriebsrats als Präsenzsitzung durchzuführen.

Im Juni 2020 beschloss die Arbeitgeberin, allen Mitarbeitern die Teilnahme an klinikübergreifenden Präsenzveranstaltungen zu untersagen. Ursache für diese Anordnung war ein privates Treffen von bei der Arbeitgeberin beschäftigten Ärzten. In Folge mussten 130 Patienten unter Quarantäne gestellt werden. In einer E-Mail unterrichtete die Arbeitgeberin den Gesamtbetriebsrat, weiterhin klinikübergreifende Treffen nicht zu gestatten. Das betreffe Betriebsrats- und Ausschusssitzungen, die über die Zusammenkunft von Mitarbeitern von mehr als einer Klinik hinausgingen. Die Arbeitgeberin widerrief deshalb auch eine zuvor für die Sitzung des Gesamtbetriebsrats im August 2020 erteilte Kostenzusage und verteidigte gleichzeitig ihre Untersagung.

Vor dem Arbeitsgericht leitete der Gesamtbetriebsrat am 7. August 2020 ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ein. Er machte geltend, die Arbeitgeberin habe es zu unterlassen Präsenzsitzungen, insbesondere die für Mitte August beschlossene Sitzung, zu untersagen. Der Antrag bezog sich auf das Verbot der Behinderung der Arbeit der Mitglieder des Gesamtbetriebsrates. Rechtsvorschriften zur Eindämmung der Pandemie stünden der Durchführung der Sitzung nicht entgegen. Der Gesamtbetriebsrat lege selbstständig fest, wann und in welcher Form Sitzungen durchgeführt werden.

Die Arbeitgeberin müsse es auch unterlassen, den Verdienst bzw. das Arbeitszeitguthaben von Teilnehmenden zu kürzen oder das für die Sitzung gebuchte Hotel zu stornieren. Außerdem sollte die Arbeitgeberin verpflichtet werden, Tagungs- und Hotelkosten zu tragen.

Die Arbeitgeberin argumentierte, die Untersagung klinikübergreifender Zusammenkünfte von Mitarbeitern diene dem Schutz der ca. 2.690 Patienten in ihren Kliniken. Bei Zusammenkünften des Gesamtbetriebsrates potenziere sich das Risiko. Bei nur einer positiven Infektion könne es in der Folge zu Quarantänemaßnahmen in 30 Betrieben bis hin zum Aufnahmestopp kommen. Die Nachteile, die der Arbeitgeberin drohten, würden die Interessen des Gesamtbetriebsrats eindeutig überwiegen.

In seinem Beschluss zur Abweisung der Anträge begründete das Arbeitsgericht, es fehle an einem konkreten Verfügungsgrund. Der Antrag gehe über die konkret bevorstehende Sitzung hinaus und müsse in einem Hauptsacheverfahren behandelt werden. Gegenüber der Organisationsgewalt des Gesamtbetriebsrats sei der Gesundheitsschutz als höherwertig anzusehen. Die Durchführung der Veranstaltung sei nicht vertretbar und nicht verantwortbar, da sie ein besonderes Risiko der Ansteckung und Übertragung darstelle.

Gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts legte der Gesamtbetriebsrat Beschwerde beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Es liege im Ermessen des Vorsitzenden des Betriebsrats bzw. seines Stellvertreters, ob eine Sitzung mittel Video- oder Telefonkonferenz durchzuführen sei. Die Arbeitgeberin habe hierbei keine Eingriffsbefugnis.

Die Arbeitgeberin führte aus, dass die Untersagung von Präsenzveranstaltungen nicht die Betriebsratstätigkeit behindere und unterliege nicht der Mitbestimmung. Der Anspruch der Arbeitgeberin gegen den Gesamtbetriebsrat, Präsenzveranstaltungen zu unterlassen, ergebe sich aus dem Recht an dem eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, aus der Berücksichtigungspflicht bezüglich betrieblicher Belange sowie dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit.

In einem Schriftsatz vom 21. August erklärte der Gesamtbetriebsrat seine Anträge bezüglich der Augustsitzung für erledigt. Gleichzeitig reichte er neue Anträge ein, für Sitzungen von Gesamtbetriebsausschuss und Gesamtbetriebsrat im September 2020. Entsprechend dem Entwurf der eingereichten Tagesordnung sollte ein stellvertretender Vorsitzender gewählt werden und Nachwahlen zum Gesamtbetriebs- und zum Wirtschaftsausschuss stattfinden. Die Präsenzsitzung sei erforderlich, da bei einer virtuellen Sitzung keine geheimen Wahlen durchgeführt werden könnten.

Die Arbeitgeberin argumentierte, die Wahlen im September 2020 könnten als Briefwahlen durchgeführt werden.

Das LAG entschied, die Arbeitgeberin habe es zu unterlassen, Präsenzsitzungen generell zu untersagen. Die übrigen vor dem Arbeitsgericht gestellten Anträge seien erledigt.

Der Arbeitgeberin wurde aufgegeben, vorläufig die Tagungs- und Übernachtungskosten für die Sitzung des Gesamtbetriebsausschusses am 21. September 2020 und des Gesamtbetriebsrates vom 22. bis 24. September 2020 zu tragen.

Gemäß § 78 Satz 1 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) dürfen die Mitglieder des Betriebsrates, des Gesamtbetriebsrats und anderer in der Vorschrift aufgezählter Vertretungen in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steht dem Betriebsrat bei einer Störung oder Behinderung seiner Arbeit durch den Arbeitgeber ein Unterlassungsanspruch zu. Damit der Gesamtbetriebsrat seine Aufgaben erfüllen kann, muss er die Unterlassung von Störungen der Tätigkeit seiner Mitglieder geltend machen können.

Die Untersagung der Sitzung sei eine Störung und Behinderung. Der Gesamtbetriebsrat benötige keine Erlaubnis der Arbeitgeberin, eine Sitzung durchzuführen. Er habe der Arbeitgeberin lediglich den Zeitpunkt der Sitzung mitzuteilen. Die Gremiumsmitglieder bedürfen auch keiner besonderen Teilnahmeerlaubnis der Arbeitgeberin. Es genüge die Benachrichtigung des zuständigen Vorgesetzten über das Verlassen des Arbeitsplatzes und der Wiederaufnahme der Arbeit nach Beendigung der Sitzung.

Dennoch könne die Untersagung der Sitzung Unsicherheiten über die Zulässigkeit der Sitzungstätigkeit und die diesbezüglichen Befugnisse der Arbeitgeberin begründen. Es bestehe die Gefahr, dass Mitglieder im Hinblick auf die Untersagung nicht an der Sitzung teilnehmen. Für die Sitzung des Gesamtbetriebsratsausschusses gelte Entsprechendes.

Wegen der vorgesehenen Wahlen könne der Gesamtbetriebsrat nicht auf eine Telefon- oder Videokonferenz ausweichen und müsse die im September geplante Sitzung als Präsenzsitzung durchführen.

Die Durchführung von Betriebsratssitzungen als Telefon- oder Videokonferenz ist vom Gesetzgeber erst seit März 2020 vorgesehen (§ 129 BetrVG). Voraussetzung für diese Form von Betriebsratssitzungen ist, dass Dritte keine Kenntnis vom Inhalt der Sitzung erlangen können.

Normalerweise wird eine Beschlussfassung im Umlaufverfahren oder aufgrund telefonischer Beratung bzw. Videokonferenz grundsätzlich für unzulässig erachtet. § 33 Absatz 1 BetrVG spricht davon, dass die Beschlüsse des Betriebsrates von den anwesenden Mitgliedern gefasst werden.

Mit dieser Regelung soll Rechtssicherheit für diese Ausnahmesituation der COVID-19-Pandemie geschaffen werden und es den Arbeitnehmervertretungen ermöglichen, Sitzungen und Beschlussfassungen mittels Video- und Telefonkonferenz einschließlich online gestützter Anwendungen durchzuführen.

Auf Wahlen finde der § 129 BetrVG keine Anwendung. Wahlen seien auch in der Gesetzesbegründung nicht angesprochen. Außerdem treffe § 129 BetrVG keine Vorkehrungen, wie eine geheime Stimmabgabe bzw. eine Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl erfolgen solle. Dies könne aber bereits deshalb erforderlich werden, weil das BetrVG teilweise ausdrücklich entsprechende Vorgaben macht.

Der Gesamtbetriebsrat könne nicht auf eine Briefwahl verwiesen werden. Bei einer Briefwahl würden nicht die anwesenden Mitglieder des Gesamtbetriebsrats wählen. Grundsätzlich gehe das Betriebsverfassungsgesetz aber von der Beschlussfassung durch die anwesenden Mitglieder der Arbeitnehmervertretung aus.

Eine Unzulässigkeit der Durchführung der Gesamtbetriebsratssitzung im September als Präsenzsitzung und eine etwa darauf beruhende Befugnis der Arbeitgeberin, diese zu untersagen, folgten nicht aus der am Tagungsort geltenden Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Ausrichter und Teilnehmer der Sitzung werden die dort genannten Maßgaben insbesondere zu einem Mindestabstand, einem Hygienekonzept und zur Nachverfolgbarkeit von Infektionen zu beachten haben.

Schließlich ist das Weisungsrecht der Arbeitgeberin aus § 106 GewO keine Grundlage, die Teilnahme an der Präsenzsitzung zu untersagen. Mitglieder des Gesamtbetriebsrates habe die Arbeitgeberin für die Sitzungsteilnahme von ihrer beruflichen Tätigkeit zu befreien.

Weisungen zum Arbeitsverhalten betreffen nicht die Sitzungsteilnahme. Deshalb könne die entsprechende Anweisung der Arbeitgeberin an die betrieblichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, überbetriebliche Kontakte zu vermeiden, ohne dass deren Wirksamkeit im Hinblick auf Mitbestimmungsrechte aus § 87 Absatz 1 BetrVG zu prüfen sein würde, die Sitzungsteilnahme nicht wirksam untersagen.

Die Arbeitgeberin habe sich auf Nachfrage in der Anhörung vor dem LAG Kammer nicht dazu erklären wollen, ob sie sich im Falle einer gerichtlichen Entscheidung, dass die Durchführung einer Präsenzsitzung im September zulässig sei, einer Störung der Betriebsratstätigkeit in Form der Hotelstornierung oder einer Weigerung, Hotel- und Tagungskosten zu tragen, enthalten würde. Vor diesem Hintergrund und zur Vermeidung einer wesentlichen Erschwerung der Arbeit des Gesamtbetriebsrats hat das LAG entsprechende Verbote und Gebote ausgesprochen.

Hinsichtlich der geltend gemachten generellen Unterlassungspflicht, Präsenzsitzungen des Gesamtbetriebsrats zu untersagen, verbleibt es bei der Antragszurückweisung durch das Arbeitsgericht.

Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin und des Arbeitsgerichts ging der Gesetzgeber bei Beratung und Verabschiedung des § 129 BetrVG nicht davon aus, dass grundsätzlich der Gesundheitsschutz höherwertig als die Durchführung von Betriebsratssitzungen sei.

Für das außerdem vom Gesamtbetriebsrat geltend gemachte vorläufige Verbot von Kürzungen des Arbeitsentgelts oder von Arbeitszeitguthaben sei kein Verfügungsgrund gegeben. Sollte die Arbeitgeberin zu Kürzungsmaßnahmen greifen, so könnten die betroffenen Mitglieder im Nachhinein entsprechende Ansprüche gerichtlich durchsetzen.

Gegen die Entscheidung wurde kein Rechtsmittel zugelassen.