BLOG RECHTSPRECHUNG

Erneute Kündigung erfordert erneute Anhörung des Betriebsrats

Anhörung Betriebsrat bei Kündigung

Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 08.12.2020, Aktenzeichen 7 Sa 226/20

Das durch die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats erworbene Recht zum Ausspruch der Kündigung ist durch den Zugang der Kündigung verbraucht. Eine erneute Kündigung erfordert eine erneute Anhörung des Betriebsrats.

Ein Kommissionierer arbeitete im Großlager der Arbeitgeberin. Im Teilbereich Getränke und Spirituosen des Trockensortiments hatte es nach Auskunft der Arbeitgeberin in der Vergangenheit Schwund gegeben. Mitarbeiter wurden beauftragt, die Gänge des Trockensortiments zu kontrollieren. Eine versteckte Kamera, die den Gang des Bereiches Spirituosen beobachtete, wurde installiert und immer zu Zeiten eingeschaltet, zu denen im Trockenbereich nicht gearbeitet wurde. Aufzeichnungen wurden nur bei Bewegungen im überwachten Bereich angefertigt.

Gemeinsam mit einem Kollegen fuhr der Kommissionierer jeweils mit einem Flurförderfahrzeug in den Gang des abgedunkelten Trockensortiments, in dem 0,04 Liter Gebinde mit Jägermeister lagerten, wobei sie die Tür des Treppenhauses zur Kantine im Obergeschoss passierten. In unmittelbarer Nähe der Gebinde stellten sie die Flurfahrzeuge ab und liefen ein Stück zurück zum Treppenhaus, das zur Kantine führt. Auf dem Weg zum Treppenhaus, direkt neben den Gebinden bückte sich der Kommissionierer hinter seinem Kollegen. Beide wurden von der versteckt angebrachten Kamera gefilmt.

Zurück im Frischbereich wurden sie von zwei Schichtleitern darauf angesprochen, was sie im Trockensortiment zu tun hätten. Die Schichtleiter kontrollierten anschließend den Spirituosenbereich und stellten fest, dass ein bodennah gelegenes Gebinde mit Jäegermeisterfläschchen aufgerissen war und zwei Fläschchen fehlten.

Am folgenden Tag wurde der Betriebsleiter informiert. Fünf Tage nach dem Vorfall wurde der Kommissionierer mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe sich Jägermeisterfläschchen angeeignet. Die Videoaufzeichnungen wurden dem Kommissionierer nicht gezeigt. Er stritt den Vorwurf ab.

Der Betriebsrat wurde zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung angehört und um Zustimmung gebeten. Der Betriebsrat erklärte, er gebe keine Stellungnahme ab.

Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin. Mit weiterem Schreiben vom 13.01.2020 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis noch einmal vorsorglich hilfsweise ordentlich zum 20.02.2020.

Der Kommissionierer erhob Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht.

Er führte aus, sich während der Arbeitszeit zu den nahegelegenen betrieblichen Versorgungseinrichtungen zu begeben sei betriebliche Übung. Der Cola-Automat im Bereich Frische sei leer gewesen, deshalb habe er sich mit seinem Kollegen zum nächsten Automaten in der Kantine begeben. Sie seien zum mittleren Regal im Bereich Trockensortiment gefahren, da es dort noch etwas Restlicht vom Bereich Frische gegeben habe. Den Schichtleitern hätten sie mitgeteilt, dass sie etwas zu Essen und Trinken aus der Kantine haben holen wollen, bis auf die Cola aus dem Automaten jedoch nichts bekommen haben. Wenige Tage später sei ihnen in einem Personalgespräch vorgehalten worden, sie hätten sich entsprechend einem aufgezeichneten Video Jägermeisterfläschchen angeeignet.

Den angebotenen Aufhebungsvertrag habe er nicht unterzeichnet. In einem Gespräch mit dem Betriebsrat sei ihm mitgeteilt worden, ohne Zustimmung des Betriebsrats dürfe die Kamera nicht installiert werden. Der Verwertung der Bilder sei zu widersprechen.

Er habe sich von einem Kollegen ein zwei Euro Stück geborgt. Das sei ihm aus der Hand gefallen. Um es zu suchen habe er sich bücken müssen. Er habe sich auch ein Brötchen holen wollen, aber erfahren, dass es an diesem Tage keine Brötchen zu kaufen gebe, weil jeder Mitarbeiter anlässlich des Feiertages zwei Brötchen gratis bekäme.

Der Kommissionierer beantragte die Feststellung, dass die ausgesprochenen Kündigungen das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst haben.

Die Arbeitgeberin beantragte Klageabweisung. Es bestehe kein Recht, die Versorgungseinrichtungen während der Arbeitszeit aufzusuchen. Die Kantine könne in den fest geregelten Pausen aufgesucht werden. Für Raucherpausen könnten Mitarbeiter kurzzeitig ausstempeln und einen der Raucherbereiche außerhalb des Gebäudes aufsuchen. Im Bereich Frische gebe es auch einen Getränkeautomaten. Es sei zu bestreiten, dass dieser zum Zeitpunkt des Vorfalls leer gewesen sein soll.

Der Kommissionierer sei zielgerichtet mit seinem Kollegen in den Bereich Trockensortiment gefahren. Sich Getränke in der Kantine holen zu wollen, sei eine Schutzbehauptung.

Wäre der Getränkeautomat im Bereich Frische leer gewesen, hätte es Mitarbeiterbeschwerden gegeben. Der Fußweg zurück von den abgestellten Flurförderfahrzeugen zur Kantine sei nicht erforderlich gewesen. Am Fuße der Treppe zur Kantine habe ein befüllter Getränkeautomat gestanden.

Der Kommissionierer habe Diebstahl begangen. Es sei der Arbeitgeberin nicht zumutbar, den Kommissionierer nur abzumahnen. Sie sei in hohem Masse auf die Loyalität und Ehrlichkeit ihrer Kommissionierer angewiesen. Eine Verdachtskündigung sei gerechtfertigt.

Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Die Arbeitgeberin habe keinen Tatnachweis liefern können. Das Video sei in den Prozess nicht eingeführt worden. Auf die möglicherweise schwammigen und widersprüchlichen Erzählungen des Kommissionierers komme es nicht an. Zur Überzeugung des Gerichts stehe nicht fest, dass der Kommissionierer einen Diebstahl begangen habe, als er sich bückte um nach seiner Darstellung ein zwei Euro Stück aufzuheben.

Für eine Verdachtskündigung seien keine ausreichenden Verdachtsmomente vorhanden. Nicht ersichtlich sei, dass der Betriebsrat neben der Kündigung wegen eines Diebstahls auch zu einer Kündigung wegen eines Verdachts auf Diebstahl angehört worden sei.

Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legte die Arbeitgeberin Berufung ein. Der Kommissionierer habe sich erheblicher Vertragsverletzungen in Form von Diebstahl schuldig gemacht. Die Arbeitgeberin legte dazu acht Screenshots aus der Videosequenz vor und bot Beweis durch Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen an. Der Kommissionierer gehe demnach einige Schritte zurück, bewege sich zu dem Colli mit den Jägermeisterflaschen, würde diese aufreißen und 2 Flaschen entnehmen. Die Kamera sei mit der Zustimmung des Betriebsrats installiert worden.

Ursprünglich habe der Kommissionierer erklärt, das Geldstück sei ihm aus der Tasche gefallen, später, es sei ihm aus der Hand gefallen. Dann zeige sich, dass der Kommissionierer sich nicht nach unten, sondern rechts in den Regalbereich hinein gebückt habe.

Nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts habe die Arbeitgeberin den Betriebsrat erneut angehört um eine Verdachtskündigung zu stützen und um die Erkenntnisse aus der Auswertung der Kameraaufzeichnungen zur Stützung der vorliegenden Kündigungen auswerten zu können. In Vorbereitung einer erneuten Kündigung sei der Betriebsrat angehört worden. Der Betriebsrat habe der Kündigung nicht zugestimmt und dies begründet. Mit Schreiben vom 02.07.2020 sei dem Kommissionierer erneut, diesmal zum 31.08.2020 gekündigt worden.

Der Kommissionierer erwiderte, die vorgelegten Lichtbilder seien unscharf. Es sei auch nicht klar, wann die Arbeitgeberin die Collis zuletzt auf Unversehrtheit überprüft habe. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass seine Einlassung weniger glaubhaft sei als die der Arbeitgeberin. Auch das Hineinbücken in ein Regal spreche nicht für Täterschaft, da dies auch nur deshalb erfolgt sein könnte, um sich abzustützen, um das zwei Euro-Stück aufzuheben.

Es werde ferner bestritten, dass der Betriebsrat zu einer Verdachtskündigung angehört worden sei. Dieses Säumnis könne nicht dadurch geheilt werden, dass der Betriebsrat nach Ausspruch der Kündigung dazu angehört werde. Vor Ausspruch der Kündigung hätte dem Kommissionierer das Video gezeigt werden müssen um sich dazu erklären zu können. Es bestehe auch ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der Videoaufzeichnungen, da keine Einigung mit dem Betriebsrat über Installation und Handhabung der Kamera vorliege. Es handele sich um eine anlasslose heimliche Videoüberwachung.

Das LAG entschied, die Berufung der Arbeitgeberin sei unbegründet. Das Arbeitsgericht habe der Kündigungsschutzklage zurecht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis sei nicht durch die Kündigungen der Arbeitgeberin aufgelöst worden.

Die außerordentliche Kündigung vom 04.01.2020 entbehre eines wichtigen Grundes. Für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Diebstahls konnte von der Arbeitgeberin kein wichtiger Grund dargelegt und bewiesen werden.

Eigentums- und Vermögensdelikte des Arbeitnehmers zu Lasten der Arbeitgeberin stellten an sich regelmäßig einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar.

Die Arbeitgeberin konnte im vorliegenden Fall einen Diebstahl von kleinen Flaschen Jägermeister durch den Kommissionierer am Sonntag, den 22.12.2019 kurz nach 17:00 Uhr im Zusammenhang mit der Fahrt mit dem Flurförderfahrzeug aus dem Frischebereich in den Bereich des Trockensortimentes nicht beweisen. Der Kommissionierer habe einen Diebstahl bestritten. Tatzeugen wurden von der Arbeitgeberin zur Beweisführung nicht angeboten. Das Gericht gewinne auch aus den Begleitumständen nicht die Überzeugung, dass der Kommissionierer zwei kleine Flaschen Jägermeister rechtswidrig an sich genommen habe.

Der Verwertung der Kameravideos und Screenshots stand das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kommissionierers in der Ausprägung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung und darin liegenden Rechtes am eigenen Bild nach Artikel 2 Absatz 1 GG (Grundgesetz) in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG entgegen.

Der Eingriff in das Recht am eigenen Bild steht danach einer Verwertung der Bilder im gerichtlichen Verfahren nur dann nicht entgegen, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten der Arbeitgeberin besteht, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachtes ergebnislos ausgeschöpft wurden, die verdeckte Kameraüberwachung damit das praktisch einzig verbleibende Mittel darstellt und diese insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.

Hier konnte die Arbeitgeberin nicht zur Überzeugung des Gerichtes darstellen, dass sie vor der Installation und Inbetriebnahme der Überwachungskamera andere, nicht in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eingreifende Mittel zur Aufklärung des Verdachtes des Diebstahles von Spirituosen ausgeschöpft hatte und die Kameraüberwachung das praktisch einzig verbliebene Mittel zur Aufklärung der Täterschaft war.

Es sei nicht ersichtlich, dass es der Arbeitgeberin nicht möglich gewesen wäre, noch andere Mittel zur Eingrenzung des Kreises der Tatverdächtigen anzuwenden. Dabei sei beispielhaft zu denken an einen Abgleich der Anwesenheitszeiten von Mitarbeitern aus den anderen Bereichen mit den Zeitpunkten, zu dem Spirituosenschwund auftrat. Damit würde der Kreis der Tatverdächtigen weiter eingegrenzt werden. Mitarbeiter, die im Zeitpunkt des Spirituosenschwundes jeweils betriebsabwesend waren, würden dann unproblematisch ebenfalls aus dem Kreis der potentiell für den Schwund verantwortlichen Mitarbeiter ausscheiden. Der Verwertung der Screenshots wie auch der Videosequenz stand daher entgegen, dass der Kommissionierer mit der Verwertung nicht einverstanden war und die Arbeitgeberin nicht im Vorfeld die Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, den Verdacht so weit als möglich aufzuklären.

Die von der Arbeitgeberin vorgetragenen Umstände mögen einen Tatverdacht begründen, stellen jedoch keinen Nachweis der Tat dar. Eine Täterschaft lasse sich daraus nicht ableiten.

Ein wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen des Verdachtes eines Diebstahls konnte von der Arbeitgeberin ebenfalls nicht dargelegt und bewiesen werden.

Eine Verdachtskündigung könne gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und die Arbeitgeberin alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht müsse auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisenden Tatsachen gestützt sein.

Im Ergebnis könne unentschieden bleiben, ob hinreichende Verdachtsmomente gegen den Kommissionierer vorliegen und er in ausreichendem Maße vor Ausspruch der Kündigung zu diesen Verdachtsmomenten angehört wurde. Als Kündigungsgrund könne nur berücksichtigt werden, was auch gegenüber dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung nach § 102 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) als solcher geltend gemacht wurde.

Da es sich bei der Kündigung wegen des Verdachtes einer Straftat um eine andere als eine Kündigung wegen einer Straftat handelt, sei vor Ausspruch einer Verdachtskündigung der Betriebsrat zu eben einer solchen anzuhören.

Hat die Arbeitgeberin dem Betriebsrat nur mitgeteilt, sie beabsichtige, das Arbeitsverhältnis wegen einer nach dem geschilderten Sachverhalt für erwiesen erachteten Handlung zu kündigen, und stütze die Kündigung im Prozess bei unverändert gebliebenem Sachverhalt auch darauf, der Arbeitnehmer sei dieser Handlung zumindest verdächtig, so ist sie mit dem Kündigungsgrund des Verdachts wegen fehlender Anhörung des Betriebsrats ausgeschlossen.

Hat die Arbeitgeberin vor Ausspruch der Kündigung den Betriebsrat nur zu einer aus ihrer Sicht tatsächlich erfolgten schweren Vertragspflichtverletzung in Gestalt eines Eigentumsdeliktes angehört, könne sie sich im späteren Kündigungsschutzverfahren nicht auf den bloßen Verdacht eines Diebstahls stützen, wenn ihr die entsprechenden Verdachtsmomente bereits bei Ausspruch der Kündigung bekannt waren.

Alle von der Arbeitgeberin festgestellten Tatsachen seien Umstände, die einen Tatverdacht gegen den Kommissionierer begründen. Zu einer Kündigung wegen eines dringenden Tatverdachtes wurde der Betriebsrat bei den streitgegenständlichen Kündigungen aber gerade nicht angehört.

Nach § 102 Absatz 1 Satz 3 BetrVG ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam. Einer erneuten Anhörung des Betriebsrats bedürfe es, wenn die Arbeitgeberin bereits nach Anhörung des Betriebsrats eine Kündigung erklärt hat, d. h., wenn die erste Kündigung dem Arbeitnehmer zugegangen ist und die Arbeitgeberin damit ihren Kündigungswillen verwirklicht hat und nunmehr eine weitere Kündigung aussprechen will. Das gelte auch dann, wenn die Arbeitgeberin die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stütze.

Eine Revision zu dieser Entscheidung wurde nicht zugelassen.