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Unbezahlte Wegezeiten – wann unverhältnismäßig?

Unbezahlte Wegezeiten zwischen Betriebsstätte und Einsatzort unverhältnismäßig

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.01.2021, Aktenzeichen 12 Sa 1859/19

Regelt eine Betriebsvereinbarung kumuliert unbezahlte verpflichtende Wegezeiten zwischen Betriebsstätte und Arbeitsort mit bis zu 1.25 unbezahlten Stunden pro Tag so ist diese Regelung unverhältnismäßig und somit unwirksam.

Ein Prüftechniker war im Außendienst eingesetzt. Für die Fahrten zu Baustellen mit täglicher Heimfahrt, die zwingend immer in der Betriebsstätte beginnen und enden, fuhr er morgens zur Betriebsstätte, füllte dort Unterlagen aus, lud Arbeits- und Betriebsmittel in das Fahrzeug und fuhr dann als Beifahrer zum ersten Arbeitsort.

Im Januar 2019 machte der Prüftechniker vor der Arbeitgeberin die Gutschrift von zu Unrecht abgezogenen Arbeitsstunden für den Zeitraum Januar 2016 bis Dezember 2018 geltend. Mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht im März 2019 verfolgte er seinen Anspruch weiter und machte hilfsweise die Vergütung der in Rede stehenden Fahrzeiten geltend.

Er vertrat die Auffassung, mit den Fahrzeiten erbringe er Arbeitszeiten, die dem Arbeitszeitkonto zuzuschreiben bzw. soweit dessen Höchstgrenze erreicht sei, zu vergüten seien. Er habe die Fahrzeuge am Betriebssitz zu beladen und entladen und dabei Transportpapiere auszufüllen. Es sei keine Rechtsgrundlage für einen Abzug ersichtlich. Die Vereinbarungen mit dem Betriebsrat seien auf ihn nicht anwendbar, da er keine Einsatzwechseltätigkeit ausführe. Als freiwillige Betriebsvereinbarungen könnten sie auch keine Regelungen zu Lasten der Arbeitnehmer treffen.

Die Arbeitgeberin beantragte Klageabweisung. Sie halte sich mit dem Abzug an die mit dem Betriebsrat getroffene Vereinbarung. Demnach sei vorgesehen, dass Anfahrtszeiten zur Baustelle erst nach 1,25 Stunden als Arbeitszeit zu vergüten seien.

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab.  Der Prüftechniker legte Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein. Die vom Arbeitsgericht vorgenommene Umdeutung der Handlungsabrede in eine Betriebsvereinbarung sei unzulässig. Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen gesetzliche Bestimmungen zu allgemeinen Geschäftsbedingungen, weil sie eine unzumutbare einseitige Leistungsänderung darstelle und intransparent sei.

Die Arbeitgeberin argumentierte, beide Vereinbarungen mit dem Betriebsrat seien wirksam zustande gekommen. Die Handlungsabrede sei jahrelang mit Wissen und Wollen des Betriebsrats durchgeführt und durch Aushang sowie als Beilage einer Informationsschrift an alle Arbeitnehmer bekannt gemacht worden.

Das LAG entschied, das Urteil des Arbeitsgerichts sei abzuändern. Aus den arbeitsvertraglichen Absprachen könne der Prüftechniker für die in der Klagebegründung aufgestellten Arbeitszeiten und die sich daraus ergebenden Zeitspannen zwischen Arbeitsbeginn und Arbeitsende von der Arbeitgeberin die geltend gemachte Gutschrift weiterer Arbeitszeiten auf dem von der Arbeitgeberin für ihn geführten Arbeitszeitkonto als Differenz zu den von der Arbeitgeberin bereits vorgenommenen Gutschriften beanspruchen. Die von der Arbeitgeberin jeweils vorgenommenen Abzüge wegen Fahrzeiten seien unberechtigt. Die von ihr hierfür herangezogenen Bestimmungen aus der Handlungsabrede 2008 und der Betriebsvereinbarung 2018 seien in Anwendung von § 75 Absatz 2 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unwirksam.

Die im ursprünglichen Arbeitsvertrag vereinbarten Obergrenzen für das Arbeitszeitkonto verstehe das Landesarbeitsgericht dahin, dass damit die wechselseitigen Zugeständnisse hinsichtlich der Flexibilisierung der Hauptleistungspflichten begrenzt werden. Bei Überschreitung der jeweils vereinbarten Stundengrenze sollten wieder die allgemeinen Regelungen greifen. Die Arbeitgeberin könne vom Arbeitnehmer die Ableistung weiterer Mehrarbeit nicht ohne Vergütung mit der nächsten monatlichen Abrechnung beanspruchen, der Arbeitnehmer könne von der Arbeitgeberin nicht die Entgegennahme weiterer Vorleistungen auf später auszuzahlende Entgeltansprüche beanspruchen. Die Stundengrenze bewirke, dass im Falle ihrer Überschreitung beide Vertragsparteien den Abbau des übersteigenden Arbeitszeitguthabens beanspruchen können.

Die streitigen Fahrzeiten zählten zu der vergütungspflichtigen Arbeitszeit im Sinne von § 611 Absatz 1 BGB bzw. seit dem 1. April 2017 im Sinne von § 611a Absatz 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch).

Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zählt zu beiden nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Die Arbeitgeberin verspricht die Vergütung aller Dienste, die sie dem Arbeitnehmer aufgrund seines arbeitsvertraglich vermittelten Weisungsrechts abverlangt. Arbeit im Sinne dieser Bestimmungen sei jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient. Hat der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebes zu erbringen, gehöre das Fahren zur auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten. Das sei unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen.

Danach zählen die vorliegend in ihrer Bewertung als Arbeitszeit streitigen Fahrzeiten ab der Betriebsstätte bis zur jeweiligen Einsatzbaustelle grundsätzlich zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. Es handele sich nicht um eigennützig zurückgelegte Wegezeiten zwischen Wohnung und Betriebsstätte, die grundsätzlich nicht vergütungspflichtig sind.

Die vorliegend in Rede stehenden Fahrzeiten beginnen an der Betriebsstätte und dienen dem Aufsuchen der Kunden der Arbeitgeberin. Sie hängen mit der eigentlichen Tätigkeit des Prüftechnikers auf den Baustellen unmittelbar zusammen. Sie sind durch die Weisung der Arbeitgeberin veranlasst, die jeweilige Arbeit auf den Einsatzbaustellen auszuführen. Schließlich dienen sie der Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeitgeberin, die auf den Baustellen entsprechende Dienstleistungen gegenüber ihren Kunden erbringen möchte.

Nach Auffassung des LAG seien aber die jeweiligen Betriebsnormen hinsichtlich der Vergütungsfreiheit von 1,25 Stunden Fahrzeit ab Firmengelände wegen Unverhältnismäßigkeit unwirksam. Außerdem würde die von den Parteien getroffene arbeitsvertragliche Absprache über die Vergütungspflichtigkeit der Arbeitszeiten als günstigere Regelung vorgehen. Ein Abänderungsvorbehalt zu Gunsten von Betriebsvereinbarungen sei nicht wirksam vereinbart.

Nach dem übereinstimmenden Parteivortrag unterfällt das Arbeitsverhältnis nicht dem betrieblichen Geltungsbereich der Tarifverträge für das Bauhauptgewerbe. Mit dem im Arbeitsvertrag angesprochenen Haustarif sei eine allgemeine Vorgabe zur Vergütung gemeint und kein Tarifvertrag im eigentlichen Sinne. Eine Tarifüblichkeit sei ebenfalls nicht ersichtlich.

Die Vorschriften aus HA 2008 und BV 2018, wonach bei Prüftätigkeit 1,25 Stunden Fahrzeiten zur Baustelle für den Beifahrer unvergütet bleiben, seien unverhältnismäßig und damit unwirksam, weil für die betroffenen Arbeitnehmer, die stets zunächst die Betriebsstätte aufsuchen müssen, Wegezeiten vom Wohnort zur Betriebsstätte und von der Betriebsstätte zur Arbeitsstelle als unvergütete Zeiten kumuliert werden.

Wie aufgezeigt, gehörten Fahrzeiten zu Baustellen außerhalb des Betriebs grundsätzlich zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. Abweichungen hiervon durch Betriebsnormen müssten verhältnismäßig bleiben. Dies sei vorliegend deshalb nicht gesichert, weil es für die betroffenen Arbeitnehmer der Prüftechnik erforderlich ist, dass sie zunächst die Betriebsstätte aufsuchen und erst von dort den Weg zur Baustelle antreten können. Für sie kommt also die Zeit für die Fahrt von der Betriebsstätte zur Baustelle als unvergütete Zeit stets zu der Wegezeit vom Wohnort zur Betriebsstätte hinzu, die nach allgemeinen Grundsätzen ebenfalls unvergütet bleibe.

Damit werden nach dem Verständnis des LAG die dem Arbeitnehmer im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vergütungsfrei zuweisbaren Fahrzeiten überschritten. Eine Kumulierung der Wegezeiten vom Wohnort zur Betriebsstätte und von dort zur Arbeitsstelle zu einer Gesamtbelastung des Arbeitnehmers mit vergütungsfreien Zeiten ist dagegen nach dem Verständnis des LAG nicht mehr verhältnismäßig. Sie berücksichtige allein die Interessen der Arbeitgeberin, ohne auf die Interessen des Arbeitnehmers hinsichtlich der Relation zwischen vergütungsfreien Wegeaufwänden und Vergütungsansprüche begründenden eigentlichen Arbeitszeit hinreichend Rücksicht zu nehmen. Stets sei es der Arbeitnehmer, der die Last aus der Entfernung zwischen Betriebsstätte und Baustelle trägt.

Der Arbeitnehmer müsse in sein Kalkül über Zeitaufwände für unbezahlte Wege im Zusammenhang mit der Arbeit zusätzlich bis zu 1,25 Stunden Fahrzeiten von der Betriebsstätte bis zur Arbeitsstelle einbeziehen.

Die Parteien haben in den schriftlichen Vereinbarungen vom 22. März 2005 und vom 18. Juli 2016 Absprachen über die Vergütung und die dafür zu berücksichtigenden Arbeitszeiten getroffen. Dort ist nur ein einziger Lohnsatz ohne Abstufung von Fahrzeiten vorgesehen. Hinsichtlich der bei der Vergütung bzw. der Führung des Arbeitszeitkontos zu berücksichtigenden Arbeitszeiten erfolgte keine Differenzierung. Hieraus folge, dass nach dem Willen der Arbeitsvertragsparteien jede Arbeitsstunde ungeachtet der Art der ausgeübten vergütungspflichtigen Arbeit mit dem genannten und später angepassten Lohnsatz zu vergüten bzw. oder gegebenenfalls auf dem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben ist. Dementsprechend gehören nach der arbeitsvertraglichen Vereinbarung die mit Fahrzeiten verbrachten Arbeitsstunden zu den bei Entgelt oder Arbeitszeitkonto zu berücksichtigenden Arbeitsstunden.

Eine Revision zu diesem Urteil wurde zugelassen.