Außerordentliche Kündigung wegen verfrühter Abwesenheit
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.01.2020, Aktenzeichen 3 Sa 271/20
Eine außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzt regelmäßig eine Abmahnung sowie einen wichtigen Grund voraus. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist die außerordentliche Kündigung das letzte Mittel, so dass sie nicht gerechtfertigt ist, wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist.
Eine medizinische Angestellte war in einer Facharztpraxis für Augenheilkunde in Teilzeit beschäftigt. An einem Mittwoch, an dem ihre reguläre Arbeitszeit um 13:00 Uhr endete, entdeckte ihre Arbeitgeberin, die jeweils am Mittwoch Post- und Behördengänge erledigt, den PKW der medizinischen Angestellten gegen 11:50 Uhr vor einem Friseursalon. Den Friseurbesuch hatte die medizinische Angestellte der Arbeitgeberin nicht mitgeteilt. Lediglich, dass sie am Nachmittag an einer Beerdigung teilnehmen werde.
Die Arbeitgeberin traf gegen 12:00 Uhr in der Praxis ein. Dort traf sie nur noch eine Mitarbeiterin an. Der letzte an diesem Vormittag betreute Patient verließ die Praxis um 11:30 Uhr. Am nächsten Tag sprach die Arbeitgeberin die medizinische Angestellte auf die verfrühte Abwesenheit am Vortag an. Nach Darstellung der Arbeitgeberin räumte die medizinische Angestellte ein, früher gegangen zu sein. Anfangs 12:30 Uhr, dann auf Vorhalt 12:14 und schließlich 11:50. Der für 13:00 geplante Friseurtermin sei vorverlegt worden.
Als die Arbeitgeberin im Nachgang versuchte, ein außerordentliches Kündigungsschreiben auszuhändigen, habe die medizinische Angestellte wutentbrannt reagiert und die Praxis verlassen ohne sich zu entschuldigen.
Am späten Nachmittag betrat die medizinische Angestellte erneut die Praxisräume und gab eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum Ende des Monats ab. Sie bedeutete der Arbeitgeberin, sie werde diese „fertig machen“, sie habe den besten Anwalt.
Zwei Tage später ging der medizinischen Angestellten dann die außerordentliche Kündigung förmlich zu. Dagegen wandte sie sich mit ihrer Klage beim Arbeitsgericht. Mit der Orthoptistin, die an diesem Tag noch anwesend war, sei ihr vorzeitiges Gehen abgesprochen gewesen. In der Praxis gelte die Regel, dass die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit bis 13:00 Uhr nur einzuhalten sei, wenn es auch solange Arbeit gäbe, insbesondere noch Patienten da seien. In den vergangenen Jahren habe es mehrfach Tage gegeben, an denen sie bzw. das ganze Team die Praxis vorzeitig verlassen haben.
In einer Teambesprechung im Dezember 2018 habe sie die Arbeitgeberin auf diese Vorgehensweise angesprochen. Sie fragte ob es weiterhin in Ordnung sei, wenn Mitarbeiterinnen nach Beendigung aller Arbeiten vor dem eigentlichen Ende die Praxis verließen oder ob man noch bis zum offiziellen Dienstende bleiben müsse. Die Arbeitgeberin habe daraufhin geantwortet: “Wenn wir fertig sind, sind wir fertig”. Dies sei von allen Mitarbeiterinnen so verstanden worden, dass man auch bereits eine Stunde vorzeitig die Praxis verlassen könne, ohne Minusstunden zu notieren. So sei es auch gehandhabt worden.
Die Überstundenzettel hätten demgegenüber lediglich den Zweck, zusätzliche Arbeitszeiten, die eigentlich dienstfrei seien, festzuhalten. Wenn die medizinische Angestellte aber schon morgens um 7:30 Uhr mit Dienstbeginn der Orthoptistin begonnen habe, seien nicht etwa 25 Minuten Überstunden notiert bzw. Mehrarbeit anderweitig festgehalten worden, ebenso wenig, wenn über den Zeitrahmen bis 13:00 Uhr mittags gearbeitet worden sei. Umgekehrt sei aber auch ein früheres Gehen im Rahmen der normalen Arbeitszeit nicht gesondert notiert worden.
Gestrichen worden seien die Überstunden jeweils erst, wenn die Praxis vorzeitig verlassen wurde, wenn in dieser Zeit grundsätzlich noch zu behandelnde Patienten oder sonstige Arbeiten zu erledigen gewesen seien, nicht aber eben dann, wenn nichts mehr zu tun gewesen sei. Diese Form der Überstundenwirtschaft sei seit Beginn ihres Arbeitsverhältnisses die Praxis gewesen.
Vor dem Arbeitsgericht begehrte die medizinische Angestellte die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst wurde.
Die Arbeitgeberin argumentierte, die medizinische Angestellte hätte weder ihr vorzeitiges Gehen noch den Friseurtermin bekannt gegeben. Die Orthoptistin sei nicht berechtigt, über die Arbeitszeit der Mitarbeiter zu verfügen. Mitarbeiterinnen, die aus welchen Gründen auch immer, den Arbeitsplatz vorzeitig verließen, müssten sich dies von der Arbeitgeberin genehmigen lassen. Sie habe auch weder ausdrücklich noch konkludent etwas Abweichendes erklärt, insbesondere nicht, dass der Arbeitsplatz vor Erreichen der Regelarbeitszeit verlassen und die Arbeit beendet werden könne. Die Überstundenzettel führten die Mitarbeiterinnen mit Mehr- oder Minusstunden an konkreten Tagen. Arbeiteten sie länger, vermerkten sie dies, gingen sie in Absprache mit der Arbeitgeberin dagegen früher, so vermerkten sie dies ebenfalls.
Das Arbeitsgericht stellte daraufhin fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung aufgelöst wurde. Gegen dieses Urteil legte die Arbeitgeberin Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) ein.
Die Voraussetzungen für eine außerordentliche Kündigung seien geben, ohne dass es einer Abmahnung bedurfte. Die Mitarbeiterin habe versucht die Arbeitgeberin über die tatsächliche Arbeitszeit zu täuschen. Es sei auszuschließen, dass die Mitarbeiterin die Zeit zutreffend erfassen werde. Hinzu komme die Drohung im Gespräch mit der Arbeitgeberin.
Das Landesarbeitsgericht entschied, die Berufung habe keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht sei zurecht davon ausgegangen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung beendet wurde. Es liege kein wichtiger Grund vor, um das Arbeitsverhältnis nicht bis zum Ende der Kündigungsfrist fortzusetzen.
Ein wichtiger Grund im Sinne der Generalklausel der § 626 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) für eine außerordentliche Kündigung liege dann vor, wenn Tatsachen gegeben sind, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und in der Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung nicht zugemutet werden könne.
Entscheidend sei nicht der subjektive Kenntnisstand des Kündigenden, sondern der objektiv vorliegende Sachverhalt, der objektive Anlass.
Bei der Bewertung des Kündigungsgrundes und bei der nachfolgenden Interessenabwägung sei ein objektiver Maßstab anzulegen, so dass subjektive Umstände, die sich aus den Verhältnissen der Beteiligten ergeben, nur aufgrund einer objektiven Betrachtung zu berücksichtigen seien. Entscheidend sei also ob die Arbeitgeberin aus der Sicht eines objektiven Betrachters weiterhin hinreichendes Vertrauen in die Arbeitnehmerin haben müsste, nicht aber, ob sie es tatsächlich hat.
Da der Kündigungsgrund zukunftsbezogen ist und die Kündigung keine Sanktion für das Verhalten in der Vergangenheit darstellt, komme es auf seine Auswirkungen auf die Zukunft an, die vergangene Pflichtverletzung müsse sich noch in Zukunft belastend auswirken. Es gehe um den zukünftigen Bestand des Arbeitsverhältnisses. Dessen Fortsetzung müsse durch objektive Umstände oder die Einstellung oder das Verhalten der Gekündigten im Leistungsbereich, im Bereich der betrieblichen Verbundenheit aller Mitarbeiter, im persönlichen Vertrauensbereich der Vertragspartner oder im Unternehmensbereich konkret beeinträchtigt sein.
Das könne dann der Fall sein, wenn auch künftig der Arbeitsvertrag nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzt wird oder sonst von einer fortwirkenden Belastung des Arbeitsverhältnisses ausgegangen werden müsse.
In einer Gesamtwürdigung sei das Interesse der Arbeitgeberin an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse der Arbeitnehmerin an dessen Fortbestand abzuwägen. Es habe eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.
Entscheidend sei die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung bzw. bis zum Ende der vereinbarten Befristung.
Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sei die außerordentliche Kündigung das letzte Mittel, so dass sie dann nicht gerechtfertigt sei, wenn die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist, weil dann die ordentliche Kündigung ein milderes Mittel als die außerordentliche Kündigung darstellt.
Deshalb setze eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie diene der Objektivierung der Prognose. Einer Abmahnung bedarf es danach bei einem steuerbaren Verhalten der Arbeitnehmerin in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch die Arbeitgeberin offensichtlich – auch für die Arbeitnehmerin erkennbar – ausgeschlossen ist. Es sei grundsätzlich davon auszugehen, dass das künftige Verhalten der Arbeitnehmerin schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden könne.
Gelinge es der Arbeitgeberin nicht, den Kündigungsvorwurf in tatsächlicher Hinsicht zu beweisen, sei die streitgegenständliche Kündigung mangels eines wichtigen Grundes unwirksam. Eine Abmahnung war vorliegend nicht entbehrlich. Deshalb sei die außerordentliche Kündigung hier unverhältnismäßig.
Die Arbeitgeberin verweise zwar darauf, dass Praxismitarbeitende, wie auch die medizinische Angestellte sogenannte Überstundenzettel führen. Trotz anscheinenden Unklarheiten in der “Zettelwirtschaft” und gerichtlichem Befragen im Kammertermin konnte die Arbeitgeberin jedoch keine präzisen Vorgaben dazu aufzuzeigen, was genau zwingend in diese Unterlagen wann und wie einzuschreiben und wie diese dann (von wem, wann, wie?) auszuwerten wären. Anhand der Dokumenten- oder Tabellenüberschrift “Überstunde” lag hier jedenfalls nicht nahe, schon jedwedes Kommen und Gehen als tag- und minutengenau eintragungspflichtig anzusehen.
Zudem hatte die medizinische Angestellte unangegriffen ergänzend angemerkt, dass mit diesen Zetteln an sich auch nur Zeiten aus eigentlich arbeitsfreien Tagen erfasst würden, nicht indes Arbeitszeitschwankungen für verfrühtes Erscheinen oder vorheriges Gehen schlechthin.
Selbst wenn der Arbeitgeberin zuzugeben wäre, dass es anders wäre und auch verfrühtes Gehen hätte eingetragen werden sollen, musste allein dieses Versäumnis bis zum Verlassen der Praxis noch keinen Betrugsversuch belegen.
Soweit die Arbeitgeberin schließlich Anstoß am vermeintlich unbotmäßigen Auftritt der medizinischen Angestellten bei Aufdeckung des Geschehens und im weiteren Verlauf des Folgetages nahm, ergab sich auch daraus kein außerordentlicher Kündigungsgrund. Die medizinische Angestellte mag im Gespräch des 9. Januar 2020 zunächst Schutzbehauptungen aufgestellt haben. Eine spontane Lüge, mit der Arbeitnehmende versuchen, eine drohende Kündigung abzuwenden, sei aber anders zu würdigen als ein wahrheitswidriger Prozessvortrag.
Im Arbeitsleben nicht unübliche Konfliktsituationen, wie hier emotionales Hochfahren bei straferheblichen Vorwürfen, können bisweilen auch noch zum Sozial- und Rechtsadäquaten gehören und hinzunehmen sein.
Auch überspitzte Kritik werde von der Meinungsfreiheit Arbeitnehmender nach Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG (Grundgesetz) noch gedeckt und sei im Einzelfall zu ertragen. Mangels näherer Substanz des Vortrags der Arbeitgeberin müsse das mittägliche Geschehen des 9. Januar 2020 in diesen Rahmen eingeordnet werden.
Die nachmittägliche Ansage, die Arbeitgeberin “fertig zu machen”, stand im unmissverständlichen Äußerungszusammenhang “den besten Anwalt” zu haben, wenn es bei der Kündigung bleiben sollte. Damit werde ein Ausschöpfen von Rechtsmitteln aller Art ausgedrückt, weniger indes irgendwelche Absichten zu buchstäblich physischer oder wirtschaftlicher Vernichtung. Im Kampf ums Recht seien indes überpointierte Äußerungen ausnahmsweise als noch von der Wahrnehmung berechtigter Interessen getragen anzusehen und damit vereinzelt ebenfalls hinzunehmen.
Soweit die Arbeitgeberin darauf hinweist, auf den Überstundenzetteln würden Mehr- oder Minusstunden im Minutenbereich festgehalten, bleibe das substantiierte Vorbringen der medizinischen Angestellten, wie dies im betrieblichen Alltag praktiziert wurde, mit der Maßgabe, dass die medizinische Angestellte sich durchaus im Rahmen des betriebsüblichen verhalten hatte, unbestritten.
Vor diesem Hintergrund bestand mangels gegenteiligem näheren substantiierten und nach dem Prinzip der Sachnähe von der Arbeitgeberin ohne Weiteres zu erwartendem tatsächlichem Vorbringen insoweit keine Veranlassung zu der Annahme, die medizinische Angestellte habe sich durch das pflichtwidrige Nichtausfüllen des Überstundenzettels für den 08.01.2020 betrügerisch verhalten. Dass entgegen der Darstellung der medizinischen Angestellten am 08.01.2020 nach dem Verlassen der Praxis tatsächlich irgendwelche Arbeiten von der medizinischen Angestellten hätten verrichtet werden müssen, habe die Arbeitgeberin nicht dargelegt.
Insgesamt sei darauf hinzuweisen, dass eine verständige Arbeitgeberin in einer Fallkonstellation, wie vorliegend, zunächst feststellen würde, dass offenbar im eigenen Betrieb keine Klarheit über die Erwartung an das vertragliche Verhalten der Arbeitnehmerinnen besteht. Hier speziell, wie zu verfahren sei, wenn zwar die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit noch nicht abgelaufen ist, andererseits aber keine zu erledigenden Arbeiten mehr anliegen und sich dies auch bis zum täglichen Arbeitsende nicht ändern wird.
Eine verständige weisungsbefugte Arbeitgeberin hätte diese Situation einer eindeutigen, für die Zukunft zu handhabender Regelung zugeführt, um für jede Arbeitnehmerin erkennbar jegliche Unklarheiten auszuschließen.
Eine Revision zu dieser Entscheidung wurde nicht zugelassen.