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Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats

Unternehmenseinheitlicher Betriebsrat

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24.03.2021, Aktenzeichen 7 ABR 16/20

Wurde ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat durch den Beschluss der Belegschaft gewählt, hat dieser solange Bestand bis ein gegenteiliger Beschluss der Belegschaft vorliegt.

Die Arbeitgeberin beschäftigt an mehr als 30 Standorten etwa 4 600 Arbeitnehmer. Nach einer unternehmensweiten Abstimmung im Unternehmen der Rechtsvorgängerin im Jahr 2002 wurde noch im gleichen Jahr ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat gewählt, der zum Zeitpunkt des Verfahrens weiterhin bestand.

Streitig war, ob bei der Arbeitgeberin ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat zu wählen ist oder ob an den einzelnen Standorten eigenständige betriebsratsfähige Organisationseinheiten bestehen.

Durch die Übertragung eines Produktionsbereiches der Rechtsvorgängerin in eine eigenständige GmbH wurde laut der dazu verfassten Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2012 ein Gemeinsamer Betrieb im Sinne von § 1 Absatz 2 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) mit einem eigenen Betriebsrat geschaffen.

Ein weiteres Unternehmen mit mehreren Standorten wurde im Jahr 2014 auf die Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin verschmolzen. In der Folgezeit wurden an den Standorten dieses weiteren Unternehmens Betriebsräte gewählt, die im Juli 2019 einen Gesamtbetriebsrat errichteten.

Im Juni 2019 wurde wiederum ein weiteres Unternehmen mit mehr als 15 Standorten auf die Arbeitgeberin verschmolzen. Am Standort dieses Unternehmens wurde nach der Verschmelzung ein neuer Betriebsrat gewählt. Eine an diesem Standort vertretene Gewerkschaft begehrte beim Arbeitsgericht die Feststellung, dass an einer Vielzahl von Standorten der Arbeitgeberin jeweils betriebsratsfähige Organisationseinheiten bestehen.

Die Gewerkschaft und mehrere Betriebsräte vertraten die Auffassung, für die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats gebe es keine Grundlage mehr. Bereits die im Jahr 2002 erfolgte Abstimmung über die Errichtung des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats sei unwirksam gewesen. Ein Belegschaftsbeschluss zur Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach § 3 Absatz 3 BetrVG setze zudem voraus, dass die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer diene, was vorliegend nicht der Fall sei.

Die zwischenzeitlich erfolgten Umstrukturierungen hätten zudem dem Belegschaftsbeschluss aus dem Jahr 2002 die Grundlage entzogen. Die Arbeitnehmerzahl sei seither deutlich gestiegen und es seien Standorte mit ordentlich gewählten Betriebsräten hinzugekommen.

Die Gewerkschaft beantragte festzustellen, dass keine unternehmenseinheitliche betriebsratsfähige Organisation mehr besteht und festzustellen, dass 72 im Einzelnen bezeichnete „Segmente“ der Arbeitgeberin jeweils eine betriebsratsfähige Organisationseinheit bilden.

Das Arbeitsgericht stellte fest, es liege eine unternehmenseinheitliche betriebsratsfähige Organisationseinheit vor. Die Beschwerde der Gewerkschaft beim Landesarbeitsgericht wurde von diesem als unzulässig verworfen. Hingegen hatte eine Rechtsbeschwerde eines der beteiligten Betriebsräte beim Bundesarbeitsgericht (BAG) teilweise Erfolg.

Das BAG führte aus, mit der vom Arbeitsgericht gegebenen Begründung könne nicht festgestellt werden, ob eine auf die Arbeitgeberin bezogene unternehmenseinheitliche betriebsratsfähige Organisationseinheit besteht.

Die Arbeitnehmer eines Unternehmens können mit Stimmenmehrheit die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats beschließen, wenn keine tarifliche Regelung besteht und in dem Unternehmen kein Betriebsrat gebildet ist. Das Landesarbeitsgericht habe aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob im Zeitpunkt der Abstimmung am 26. April 2002 im Unternehmen der Rechtsvorgängerin eine betriebliche Struktur vorlag, die einen Arbeitnehmerbeschluss zur Durchführung der Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats zuließ.

Durch Arbeitnehmerbeschluss könne nur für Unternehmen mit mehreren Betrieben die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats bestimmt werden. Ein Unternehmen mit mehreren Betrieben liegt auch vor, wenn ein Betrieb sich in Betriebsteile gliedert, die jeweils als selbständiger Betrieb gelten. Handelt es sich hingegen um ein Unternehmen mit einem Hauptbetrieb und einem oder mehreren Kleinstbetrieben, entfällt diese Möglichkeit, weil sie schon dem Hauptbetrieb zugeordnet sind.

Das Landesarbeitsgericht habe keine Feststellungen dazu getroffen, ob im Zeitpunkt der Abstimmung im Unternehmen der Arbeitgeberin bzw. deren Rechtsvorgängerin mehrere Betriebe oder selbständige Betriebsteile bestanden. Es habe lediglich festgestellt, dass die Rechtsvorgängerin im Jahr 2002 über einen Hauptsitz sowie weitere Niederlassungen verfügte.

Nach seinen bisherigen Feststellungen durfte das Landesarbeitsgericht auch nicht annehmen, dass eine ggf. wirksam erfolgte Abstimmung der Arbeitnehmer im Jahr 2002 auch noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Anhörung die Grundlage für die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats bildete.

Die Abstimmung der Arbeitnehmer nach § 3 Absatz 3 BetrVG ermögliche die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nicht nur für die nächste auf die Abstimmung folgende Wahl, sondern entfalte grundsätzlich auch Wirkung für die Folgezeit.

Sinn und Zweck der Regelung sprechen gegen ein Verständnis dahingehend, dass die Abstimmung der Arbeitnehmer nur für die anschließende erste Wahlperiode wirksam sein soll. Die Bildung einer Interessenvertretung soll auch in Unternehmen mit einer Vielzahl kleinerer Betriebe und Betriebsteile erleichtert werden. Die Realisierung dieses Normzwecks würde erschwert, wenn die Wirkung einer Abstimmung über die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats auf eine Wahlperiode begrenzt wäre. Das Bedürfnis zur Schaffung abweichender Vertretungsstrukturen in Unternehmen mit vielen kleinen Einheiten bestehe regelmäßig dauerhaft. Eine jeweils für eine Wahlperiode durchzuführende Abstimmung wäre aufgrund des erheblichen Aufwands auch nicht praktikabel.

In § 4 Absatz 1 Satz 5 BetrVG und § 20 Absatz 3 SprAuG (Sprecherausschussgesetz) komme der allgemeine – auch auf § 3 Absatz 3 BetrVG übertragbare – Rechtsgedanke zum Ausdruck, dass der Wechsel von der gewillkürten zurück zur gesetzlichen Vertretungsstruktur auf die gleiche Weise erfolgen kann wie die zuvor erfolgte Begründung der gewillkürten Struktur. Die Rückkehr zur gesetzlichen Betriebsverfassung und die Wahl von Einzelbetriebsräten erfordere daher grundsätzlich eine erneute Abstimmung der Belegschaft.

Ebenfalls nicht zu beanstanden sei die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dass auch der zwischenzeitlich erfolgte Anstieg der Arbeitnehmerzahl im Unternehmen der Arbeitgeberin die Wirkung der erfolgten Abstimmung nicht beendet hat. Das Gesetz regelt die Folgen einer Schwankung der Arbeitnehmerzahl abschließend dahin, dass der Betriebsrat neu zu wählen ist, wenn mit Ablauf von 24 Monaten, vom Tage der Wahl gerechnet, die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer um die Hälfte, mindestens aber um fünfzig, gestiegen oder gesunken ist.

Im Ergebnis zutreffend hat das Landesarbeitsgericht auch angenommen, dass die im Jahr 2002 erfolgte Abstimmung, sofern sie wirksam gewesen sein sollte, durch die Übernahme von Betrieben im Zuge der Verschmelzungen auf die Arbeitgeberin bzw. ihre Rechtsvorgängerin ihre Wirkung nicht verloren hat.

Auch eine Änderung der betrieblichen Strukturen innerhalb des Unternehmens könne die Wirkung einer Abstimmung für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat grundsätzlich nicht aufheben.

Durch einen Beschluss der Arbeitnehmer für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat werde die gesetzliche Organisation der Betriebsverfassung zur Disposition der Arbeitnehmer gestellt und von den Organisationsentscheidungen der Arbeitgeberin gelöst. Eine aufgrund eines solchen Beschlusses errichtete unternehmensweite betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit stelle keinen Betrieb im Sinne von § 1 Absatz 1 Satz 1 BetrVG dar. Die Belegschaft schaffe mit dem Beschluss gerade eine ggf. von den tatsächlichen betrieblichen Strukturen abweichende betriebsverfassungsrechtliche Ordnung und löst den Betriebsrat vom Betrieb als ausschließliche Organisationsbasis ab. Der Beschluss der Arbeitnehmer bewirkt, dass anschließend ein Betriebsrat für das gesamte Unternehmen gewählt werden kann, unabhängig von den gesetzlichen Betriebsstrukturen und den diese beeinflussenden arbeitgeberseitigen Organisationsmaßnahmen.

Die Ablösung von den durch arbeitgeberseitige Organisationsentscheidungen beeinflussten gesetzlichen Betriebsstrukturen für die Dauer der Wirkung eines Belegschaftsbeschlusses habe zur Folge, dass auch spätere Änderungen der Betriebsstrukturen innerhalb des Unternehmens grundsätzlich nicht dazu führen, dass eine Abstimmung für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat ihre Wirkung verliert.

Der Erwerb eines oder mehrerer Betriebe durch den an einen Belegschaftsbeschluss gebundenen Unternehmensträger habe daher zur Folge, dass diese Betriebe fortan in die durch Belegschaftsbeschluss gewillkürte unternehmenseinheitliche Betriebsstruktur einbezogen sind. Deren Belegschaften werden ab diesem Zeitpunkt von dem unternehmenseinheitlichen Betriebsrat repräsentiert. Auf die Frage, ob die übernommenen Betriebe unter Wahrung ihrer Identität übergegangen oder in einen bestehenden Betrieb eingegliedert sind, komme es nicht an.

Ob ein im Rahmen einer Verschmelzung auf einen neuen Rechtsträger übergegangener Betrieb in dort bestehende betriebliche Strukturen eingegliedert wird oder seine Identität wahrt, hänge von organisatorischen Entscheidungen der Arbeitgeberin ab, die im Rahmen des § 3 Absatz 3 BetrVG, anders als in der gesetzlichen Struktur, unbeachtlich sind. Darauf, ob der aufgenommene Betrieb in einen anderen Betrieb eingegliedert wird, komme es dann nicht an, weil die betriebliche Struktur für die unternehmenseinheitliche Vertretung durch einen Betriebsrat aufgrund eines Beschlusses für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat keine Rolle spielt. Daher gehe ein etwaiger in einem übernommenen Betrieb gebildeter Betriebsrat des aufgenommenen Unternehmens mit der Folge unter, dass dessen Belegschaft fortan von dem unternehmenseinheitlichen Betriebsrat des aufnehmenden Unternehmens repräsentiert wird. Ein Fortbestand des Mandats des aufgenommenen Betriebsrats bei identitätswahrender Übernahme wie bei der gesetzlichen Betriebsverfassung hätte zur Folge, dass für das aufnehmende Unternehmen mindestens zwei Betriebsräte bestehen.

Der Wegfall der Möglichkeit der Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats hätte ggf. für kleinere Betriebsstätten wieder betriebsratslose Zustände zur Folge, was die Regelung gerade vermeiden will. Den Belangen der Belegschaft eines übernommenen Betriebs oder Betriebsteils werde dadurch Rechnung getragen, dass sie künftig durch ein anderes Gremium betriebsverfassungsrechtlich vertreten wird. Zwar wurde der unternehmenseinheitliche Betriebsrat von der Belegschaft des übernommenen Betriebs nicht gewählt. Dieses vorübergehende Fehlen der demokratischen Legitimation ist jedoch ebenso hinzuzunehmen wie in anderen Fällen, in denen Arbeitnehmer erst nach der Wahl des Betriebsrats Belegschaftsmitglieder geworden sind und ihn deshalb nicht wählen konnten.

Das Landesarbeitsgericht habe rechtsfehlerhaft die Prüfung unterlassen, ob dem im Jahr 2002 gefassten Beschluss der Arbeitnehmer für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat dadurch die Wirkung entzogen wurde, dass die Arbeitgeberin und die GmbH seit der Übertragung des Teilbereichs auf die GmbH im Jahr 2012 einen gemeinsamen Betrieb führen bzw. einen solchen zwischenzeitlich geführt haben.

Ein Belegschaftsbeschluss verliert seine Wirkung, wenn sich die betrieblichen Strukturen bei Umstrukturierungen nicht in dem vorgegebenen Rahmen halten. Das kann der Fall sein, wenn im Zuge von Umstrukturierungen ein gemeinsamer Betrieb mit einem anderen Unternehmen entsteht.

Durch Arbeitnehmerbeschluss kann für Unternehmen mit mehreren Betrieben die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats beschlossen werden. Diese Gestaltungsmöglichkeit bezieht sich auf die Errichtung eines Betriebsrats für ein Unternehmen. Sie eröffnet damit keine Dispositionsbefugnis der Belegschaft zur Festlegung unternehmensübergreifender Repräsentationseinheiten, selbst wenn ein Unternehmen gemeinsam mit einem anderen Unternehmen einen Gemeinschaftsbetrieb führt.

Die Wahl eines unternehmensübergreifenden Betriebsrats kann nicht beschlossen werden, sondern ausschließlich die Wahl eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats. Deshalb verliert ein Belegschaftsbeschluss für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat durch die Bildung eines gemeinsamen Betriebs mit einem anderen Unternehmen seine Wirkung, so dass anschließend nach den gesetzlichen Strukturen zu wählen ist. Das gilt, jedenfalls solange keine erneute wirksame Beschlussfassung nach § 3 Absatz 3 BetrVG erfolgt ist, auch dann, wenn ein gemeinsamer Betrieb mit einem weiteren Unternehmen später wieder aufgelöst wird.

Danach hätte der im Jahr 2002 gefasste Belegschaftsbeschluss seine Wirkung verloren, wenn die Arbeitgeberin und das übertragene Unternehmen im Anschluss an die Übertragung des Teilbereichs im Jahr 2012 – ggf. zwischenzeitlich – einen gemeinsamen Betrieb geführt hätten. Dies hat das Landesarbeitsgericht nicht geprüft.

Die Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, soweit das Landesarbeitsgericht dem Antrag stattgegeben hat, und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.