Böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19.05.2021, Aktenzeichen 5 AZR 520/20
Ein Arbeitnehmer muss sich nur dann böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienst anrechnen lassen, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert.
Eine kaufmännische Angestellte war seit 2008 in einem Unternehmen der Arbeitgeberin beschäftigt. Basierend auf einer Gesamtbetriebsvereinbarung beabsichtigte die Arbeitgeberin die Ausgliederung und Veräußerung mehrerer Geschäftsgebiete. Davon betroffen war auch der Arbeitsplatz der kaufmännischen Angestellten.
Im Mai 2019 unterrichtete die Arbeitgeberin die kaufmännische Angestellte über den anstehenden Betriebsteilübergang und damit eines Überganges ihres Arbeitsverhältnisses nach § 613a BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Die kaufmännische Angestellte widersprach dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses.
Mit Schreiben vom Juli 2019 informierte die Arbeitgeberin, mit der Erwerberin sei vereinbart, im Falle eines Widerspruchs gegen den Betriebsübergang soll die dadurch entstehende unbesetzte Stelle für den Zeitraum von einem Jahr durch Arbeitnehmerüberlassung kompensiert werden. In diesem Rahmen bot die Arbeitgeberin der kaufmännischen Angestellten an, vom 1. August 2019 bis zum 31. Juli 2020 zu ansonsten unveränderten Bedingungen mit ihrer bisherigen Tätigkeit als Leiharbeitnehmerin bei der Erwerberin zu arbeiten. Das lehnte die kaufmännische Angestellte ab.
Am 29. Juli 2019 informierte die Arbeitgeberin, wegen des Teilbetriebsübergangs werde sie ab dem 1. August die kaufmännische Angestellte nicht mehr beschäftigen und keinen Zugang mehr zu den Betriebsstätten ermöglichen können. Da die kaufmännische Angestellte das Angebot einer zumutbaren, gleichwertigen Beschäftigung abgelehnt habe, werde sie ab dem 1. August 2019 keine Gehaltszahlungen mehr erhalten. Sollte die kaufmännische Angestellte ihre Einstellung kurzfristig ändern, möge sie sich mit der Arbeitgeberin in Verbindung setzen.
Arbeitsunfähig erkrankt war die kaufmännische Angestellte vom 30. Juli 2019 bis zum 09. August 2019. Von der Arbeitgeberin gewährten Urlaub nahm sie vom 12. bis 16. August 2019. Als sie am 19. August 2019 auf der Arbeit erschien, wurde sie von der zuständigen Managerin nach Hause geschickt. Für die Zeit ab August 2019 stellte die Arbeitgeberin wie angekündigt die Gehaltszahlung ein, von der tariflichen Jahresleistung zahlte sie anteilig 7/12, tarifliches Urlaubsgeld gewährte sie für 20 Urlaubstage.
Ende August 2019 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zu Ende Januar 2020. Im darauffolgenden Kündigungsschutzverfahren schlossen die Parteien einen gerichtlichen Teilvergleich, in welchem die Arbeitgeberin sich u.a. dazu verpflichtete, die kaufmännische Angestellte ab Februar 2020 zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen zu beschäftigen.
Für den Zeitraum August 2019 bis Januar 2020 hat die kaufmännische Angestellte im Wege mehrfacher Klageerweiterung Vergütung verlangt. Sie habe Zwischenverdienst nicht böswillig unterlassen. Ihr sei es nicht zumutbar gewesen, die angebotene Tätigkeit als Leiharbeitnehmerin anzunehmen. Neben der Vergütung wegen Annahmeverzugs stünden ihr Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum ihrer Erkrankung und Urlaubsentgelt für den von der Arbeitgeberin gewährten Urlaub im August 2019 zu. Ferner könne sie das tarifliche Urlaubsgeld und die tarifliche Jahresleistung jeweils in voller Höhe beanspruchen.
Die Arbeitgeberin beantragte Klageabweisung. Sie argumentierte, die kaufmännische Angestellte habe böswillig anderweitigen Zwischenverdienst unterlassen. Mangels Arbeitswilligkeit könne sie auch keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und kein Urlaubsentgelt beanspruchen.
Das Arbeitsgericht wies die Klage, soweit sie in die Revisionsinstanz gelangte, ab. Auf die Berufung der kaufmännischen Angestellten hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsentgelt und ein weiteres Zwölftel der tariflichen Jahresleistung zugesprochen und im Übrigen die Revision zurückgewiesen.
Mit der vom LAG zugelassenen Revision hielt die kaufmännische Angestellte an ihren weitergehenden Anträgen fest. Die Arbeitgeberin hingegen begehrte mit ihrer Revision die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, beide Revisionen haben keinen Erfolg. Die Klage sei nur in dem Umfang begründet, wie sie vom Landesarbeitsgericht geurteilt wurde. Eine Korrektur gebe es lediglich zum Beginn der Verzinsungspflicht.
Die kaufmännische Angestellte habe keinen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzug. Sie müsse sich den Erwerb anrechnen lassen, den sie böswillig unterließ.
Die Arbeitgeberin befand sich seit dem Zeitpunkt im Annahmeverzug, zu dem sie die kaufmännische Angestellte nicht mehr beschäftigte. Es war entbehrlich, dass die kaufmännische Angestellte ihre Arbeitsleistung anbot, da anhand des Schreibens der Arbeitgeberin von Ende Juli 2019 offenkundig war, dass die Arbeitnehmerin die Arbeitsleitung nicht mehr annehmen wollte und wegen des Teilübergangs in der bisherigen Form auch gar nicht mehr annehmen konnte. Diesen Umstand anerkennend streiten die Parteien auch nur noch darüber, ob die kaufmännische Angestellte im Annahmeverzugszeitraum böswillig anderweitigen Verdienst unterlassen habe.
Ein Arbeitnehmer unterlässt böswillig im Sinne von § 615 Satz 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) anderweitigen Verdienst, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert.
Erforderlich für die Beurteilung der Böswilligkeit ist stets eine unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen. Dabei schließt die Beschäftigungsmöglichkeit bei dem Arbeitgeber, der sich mit der Annahme der geschuldeten Dienste des Arbeitnehmers in Verzug befindet, eine Anrechnung nicht grundsätzlich aus. Dasselbe gilt beim Betriebsübergang für eine Erwerbsmöglichkeit beim neuen Betriebsinhaber, selbst wenn der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses wirksam widersprochen hat.
Die von der Arbeitgeberin auf zwölf Monate befristet angebotene anderweitige Tätigkeit sei der kaufmännischen Angestellten zumutbar gewesen. Die Art der Tätigkeit, der Arbeitsort und die Vergütung sollten unverändert bleiben. Ein Wechsel in ein klassisches Leiharbeitnehmerverhältnis wäre nicht erfolgt. Die kaufmännische Arbeitnehmerin hätte lediglich ihre Arbeitsleistung für einen Dritten erbringen müssen und wäre dessen Direktionsrecht unterworfen.
Die kaufmännische Angestellte habe aber keine Bedenken gegen die Erwerberin geltend gemacht. Konkrete und unzumutbare Nachteile, die sich aus dem gespaltenen Direktionsrecht ergeben könnten, seien nicht ersichtlich. Vertragsrechtliche Bedenken könnten nicht aufgeführt werden, da § 615 Satz 2 BGB nicht Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag regelt, sondern die nach anderen Maßstäben zu beurteilende Verpflichtung, aus Rücksichtnahme gegenüber der Arbeitgeberin einen zumutbaren Zwischenverdienst zu erzielen.
Das Arbeitsverhältnis der kaufmännischen Angestellten mit der Arbeitgeberin sollte zum Zeitpunkt des Angebots vorübergehender anderweitiger Beschäftigung nicht beendet werden, sie hätte dem Betrieb der Arbeitgeberin weiterhin angehört. Auch ihre Revision zeige nicht auf, welche konkreten und unzumutbaren betriebsverfassungsrechtlichen Nachteile der kaufmännischen Arbeitnehmerin bei der auf zwölf Monate befristeten Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit bei der Erwerberin entstanden wären.
Selbst wenn für den vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten entsprechend § 10 Absatz 1 AÜG ein befristetes Arbeitsverhältnis mit der Entleiherin begründet worden wäre, hätte dies nicht zur Unwirksamkeit des gesamten Arbeitsvertrags geführt und damit den Fortbestand ihres Dauerarbeitsverhältnisses mit der Arbeitgeberin nicht berührt. Zumindest hätte die kaufmännische Angestellte, hielte sie dies für erforderlich, eine Festhaltenserklärung nach § 9 Absatz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 AÜG abgeben können.
Ob die kaufmännische Angestellte, schon ab August 2019 mit der im Prozessvergleich ab Februar 2020 vereinbarten Tätigkeit hätte betraut werden können, sei unbeachtlich. § 615 Satz 2 BGB betrifft nicht den arbeitsvertraglichen Beschäftigungsanspruch, sondern die Verpflichtung, aus Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) vorübergehend eine nicht vertragsgerechte Arbeit zu verrichten und dadurch einen zumutbaren anderweitigen Verdienst zu erzielen.
Von der kaufmännischen Angestellten hätte deshalb erwartet werden können, dass sie das Angebot der Arbeitgeberin zumindest unter dem Vorbehalt einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit annimmt. Sie sei in dieser Hinsicht jedoch untätig geblieben, habe sich nicht auf zum damaligen Zeitpunkt im Intranet der Arbeitgeberin ausgeschriebene Stellen beworben, sondern lediglich im späteren Kündigungsschutzprozess ihre unveränderte Weiterbeschäftigung beantragt. Bewerbungen auf ausgeschriebene freie Stellen oder eine Beschäftigungsklage hätte sie aber auch bei Annahme des Angebots der Arbeitgeberin unter Vorbehalt in Angriff nehmen können. Die kaufmännische Angestellte kannte die anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit und deren Konditionen sei aber vorsätzlich untätig geblieben.
Für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit durch Erkrankung habe die kaufmännische Angestellte Anspruch auf Entgeltfortzahlung in der vom LAG beurteilten Höhe.
Wäre die kaufmännische Angestellte nicht infolge Krankheit arbeitsunfähig gewesen, hätte sie wegen § 615 Satz 2 BGB keinen Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs gehabt. Diese hypothetische Betrachtungsweise greife jedoch zu kurz. Ist die Arbeitnehmerin arbeitsunfähig krank, trifft sie für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit keine Verpflichtung zur anderweitigen Arbeit mit der Folge, dass in dieser Zeit ein böswilliges Unterlassen anderweiten Erwerbs grundsätzlich ausscheidet und der Arbeitnehmerin der arbeitsvertragliche Vergütungsanspruch erhalten bleibt.
Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, die kaufmännische Angestellte wäre – die Arbeitsunfähigkeit hinweggedacht – nicht willens gewesen, die arbeitsvertraglich geschuldete Leistung bei der Arbeitgeberin zu erbringen. Dass ihr Arbeitsplatz bei der Arbeitgeberin nicht mehr vorhanden war, sondern durch Betriebsübergang auf die Erwerberin übergegangen ist, und sie eine Beschäftigung bei dieser ablehnte, stehe dem nicht entgegen.
Die kaufmännische Angestellte habe Anspruch auf Urlaubsentgelt für den ihr nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts im Zeitraum vom 12. bis zum 16. August 2019 von der Arbeitgeberin erteilten Urlaub. Während des Urlaubs scheide nicht nur eine Anrechnung anderweitigen Verdienstes aus. Es bestehe auch keine Verpflichtung der Arbeitnehmerin, im Urlaub anderweitigen Verdienst zu erzielen. Einer solchen stünde das Verbot der Erwerbstätigkeit während des Urlaubs nach § 8 BUrlG (Bundesurlaubsgesetz) entgegen. Außerdem sei ausschließlich das anzurechnen, was die Arbeitnehmerin durch anderweitige Verwendung desjenigen Teils ihrer Arbeitskraft hätte erwerben können, den sie der Arbeitgeberin zur Verfügung zu stellen verpflichtet war. Während eines genehmigten Urlaubs ist die Arbeitnehmerin aber nicht verpflichtet, der Arbeitgeberin ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.
Die kaufmännische Angestellte habe aber keinen Anspruch auf weiteres tarifliches Urlaubsgeld, da ein Anspruch nur für tatsächlich genommenen Urlaub besteht. Die kaufmännische Angestellte habe jedoch nicht behauptet, im Urlaubsjahr 2019 mehr Urlaub als die 20 Tage, für die unstreitig Urlaubsgeld gezahlt wurde, genommen zu haben.
Soweit die kaufmännische Angestellte die Forderung nach restlichem Urlaubsgeld auf Schadensersatz stützen wolle, fehle es schon an jeglichem Sachvortrag zum Eintritt eines Schadens. Es sei nicht ersichtlich, dass und aus welchen Gründen die kaufmännische Angestellte trotz Fortbestand des Arbeitsverhältnisses den restlichen Urlaub aus dem Jahr 2019 in der Folgezeit trotz der Mitwirkungsverpflichtung der Arbeitgeberin nicht mehr nehmen konnte.