BLOG RECHTSPRECHUNG

Annahmeverzug: Darlegungs- und Beweislast der Arbeitgeberin

Vergütung von Annahmeverzug bei Leistungsunfähigkeit

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.07.2021, Aktenzeichen 5 AZR 543/20

Bezweifelt die Arbeitgeberin die Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers bezüglich seines gestellten Anspruchs auf Annahmeverzug, trägt sie die Darlegungs- und Beweislast.

Ein Diplom Mathematiker, anerkannt als schwerbehinderter Mensch, mit einem Behinderungsgrad von 50%, war seit 1987 beim Deutschen Bibliotheksinstitut in der Datenverarbeitung angestellt. Das Arbeitsverhältnis ging später auf das Land Berlin-Brandenburg über. Im Juni 2004 wurde der Mathematiker zum zentralen Personalüberhangsmanagement versetzt. In der Folgezeit arbeitete er auf verschiedenen Arbeitsplätzen. Im Zeitraum von August 2010 bis Anfang 2015 war der Mathematiker unter Fortzahlung der Vergütung freigestellt. Bis zum 30. Juni 2016 war er anschließend in der Finanzschule beschäftigt. Während dieser Beschäftigung war der Mathematiker bis Anfang Juli 2015 an 86 Tagen und ab dem 9. Dezember 2015 durchgehend bis zumindest 5. August 2016 arbeitsunfähig krank.

Während eines Personalgesprächs am 1. August 2016 sagte das Land keinen neuen Einsatz zu, zahlte aber zunächst bis November 2016 die Vergütung weiter. Nachdem die Vergütung eingestellt wurde erhob der Mathematiker Ende Februar 2016 Klage beim Arbeitsgericht und verlangte Vergütung wegen Annahmeverzug für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017. Hilfsweise verlangte er Schadenersatz in gleicher Höhe. Seit dem 6. August 2016 sei er wieder arbeitsfähig. Der medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg sei von seiner Arbeitsfähigkeit seit dem 1. August 2016 ausgegangen. Im Juli 2016 habe er wegen seiner psychischen Erkrankungen erfolgreich eine medikamentöse Kombinationstherapie begonnen. Seine behandelnden Ärzte habe er von ihrer Schweigepflicht entbunden.

Das beklagte Land erwiderte, der Mathematiker sei im Annahmeverzugszeitraum für die geschuldete Tätigkeit nicht leistungsfähig gewesen und beruft sich dabei auf die seit Jahren auftretenden Krankheitszeiten sowie auf mehrere ärztliche Stellungnahmen der Zentralen Medizinischen Gutachterstelle (ZMGA).

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Im Wesentlichen gab des Landesarbeitsgericht der Berufung statt und sprach dem Mathematiker Vergütung wegen Annahmeverzugs zu. Auf die Beschwerde des beklagten Landes hob das Bundesarbeitsgericht das Urteil des Landesarbeitsgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurück. Im erneuten Berufungsverfahren hat das Landesarbeitsgericht der Klage wiederum im Wesentlichen stattgegeben und die Revision zugelassen. Mit der Revision vor dem Bundesarbeitsgericht verlangte das beklagte Land die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils sowie hilfsweise die zur Abweisung der Zwangsvollstreckung gezahlten Beträge zurück.

Das Bundesarbeitsgericht erklärte, der Berufung des Mathematikers könne mit der vom Landesarbeitsgericht gegeben Begründung nicht stattgegeben werden. Auf der Grundlage der bisherigen Entscheidungen könne das Bundesarbeitsgericht jedoch nicht abschließend entscheiden, ob der Mathematiker für den streitigen Zeitraum Anspruch auf Vergütung wegen Annahmeverzugs habe.

Ein Angebot der Arbeitsleistung durch den Mathematiker war entbehrlich. Das Land habe dem Mathematiker unstreitig nach dem 30. Juni 2016 keine Tätigkeit mehr zugewiesen und ihm in Anschluss an das Personalgespräch vom 1. August 2016 vorläufig freigestellt. Mit der einseitigen Freistellung gab die Arbeitgeberin zu erkennen, dass sie zur Beschäftigung des Mathematikers nicht bereit sei.

Die Arbeitgeberin gerate aber nicht in Annahmeverzug, wenn der Arbeitnehmer außer Stande sei, die geschuldete Arbeitsleistung aus in seiner Person liegenden Gründen zu bewirken. Neben dem Leistungswillen sei die Leistungsfähigkeit eine unabhängige Voraussetzung, die während des gesamten Annahmeverzugszeitraumes vorliegen müsse. Das gelte selbst dann, wenn der Arbeitnehmer von der Arbeitspflicht freigestellt wurde. Die Arbeitgeberin habe zwar auf ein Angebot der Arbeitsleistung verzichtet, der Arbeitnehmer müsse jedoch zur Erbringung der vertraglich vereinbarten Arbeitsleistung in der Lage sein.

Das Landesarbeitsgericht begründe zu Unrecht, das beklagte Land habe seiner primären Darlegungslast für die Leistungsunfähigkeit nicht genügt. Weil die Arbeitgeberin über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers regelmäßig keine näheren Kenntnisse habe, genüge sie ihrer primären Darlegungslast grundsätzlich schon dadurch, dass sie Indizien vorträgt, aus denen auf eine Leistungsunfähigkeit im Annahmeverzugszeitraum geschlossen werden kann. Es sei dann Sache des Arbeitnehmers die Indizwirkung der behaupteten Tatsachen zu erschüttern. Naheliegend sei etwa, die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Dann sei die Arbeitgeberin für die Leistungsunfähigkeit beweispflichtig. Sie könne sich dann auf das Zeugnis der behandelnden Ärzte sowie auf ein Sachverständigengutachten berufen.

An die primäre Darlegungslast der Arbeitgeberin dürften keine hohen Anforderungen gestellt werden, da sie regelmäßig über keine näheren Informationen zum Gesundheitszustand des Arbeitnehmers verfüge. Das Bundesarbeitsgericht habe beispielsweise die Koinzidenz zwischen dem Ablauf der Kündigungsfrist und dem behaupteten Ende der Arbeitsunfähigkeit nach einer mehrmonatigen Erkrankung als entsprechendes Indiz ausreichen lassen.

Generell gelten als Indizien der Leistungsunfähigkeit etwa Krankheitszeiten des Arbeitnehmers vor und nach dem Verzugszeitraum sowie privatgutachterliche Stellungnahmen eines Betriebs- oder Vertrauensarztes über die Leistungsunfähigkeit des Arbeitnehmers, deren Einschätzungen die Arbeitgeberin sich – zumindest konkludent – zu eigen macht.

Das Landesarbeitsgericht habe nicht alle relevanten Umstände berücksichtigt und die Anforderungen an ärztliche Einschätzungen der Leistungsunfähigkeit eines Arbeitnehmers überspannt.

Maßgeblich für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit bzw. Leistungsunfähigkeit des Mathematikers sei deshalb nicht eine konkrete, von ihm zu bewirkende Arbeitsleistung, sondern die im Arbeitsvertrag umschriebene Tätigkeit unter Berücksichtigung der zuletzt für ihn maßgeblichen Entgeltgruppe, da das Land ihm nur innerhalb dieser Entgeltgruppe Arbeit zuweisen kann. Es komme deshalb nur darauf an, ob der Mathematiker im Annahmeverzugszeitraum gesundheitlich zu Arbeit in der Lage war, die den Anforderungen der Tätigkeitsmerkmale seiner Entgeltgruppe genügt.

Unerheblich sei dabei, ob – wie das Landesarbeitsgericht meint – ein nach § 297 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) zum Ausschluss des Annahmeverzugs des Arbeitgebers führendes Unvermögen des Arbeitnehmers aus gesundheitlichen Gründen mit dem aus dem Entgeltfortzahlungsrecht stammenden Begriff der Arbeitsunfähigkeit gleichzusetzen sei oder es gesundheitsbedingte Leistungsminderungen geben kann, die nicht Arbeitsunfähigkeit, aber Unvermögen im Sinne des § 297 BGB bedingen. Maßgeblich sei allein, ob, wie das beklagte Land geltend macht, der Mathematiker aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, eine Tätigkeit auszuüben, die den Anforderungen der Tätigkeitsmerkmale der Entgeltgruppe 11 entspricht.

Vor diesem Hintergrund böten – wie auch das Arbeitsgericht zutreffend angenommen hat – die vom beklagten Land vorgelegten ärztlichen gutachterlichen Stellungnahmen vom 8. Juni 2016, 13. März 2017 und 23. Oktober 2017 entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts hinreichende Anhaltspunkte für die Schlussfolgerung, der Mathematikers sei jedenfalls im Streitzeitraum für Tätigkeiten in seiner Entgeltgruppe nicht leistungsfähig gewesen, weil er aus gesundheitlichen Gründen die tariflichen Anforderungen an eine Tätigkeit in dieser Entgeltgruppe weiterhin nicht erfüllen konnte.

Die ärztliche Gutachterin erklärte ein knappes halbes Jahr vor Beginn des Streitzeitraums, ein Ende der zu diesem Zeitpunkt unstreitig seit dem 9. Dezember 2015 durchgängig bestehenden Arbeitsunfähigkeit sei nicht absehbar.

Im März 2017 hält die ärztliche Gutachterin die Einschätzung des Medizinischen Dienstes zu einer Arbeitsfähigkeit des Mathematikers ab dem 1. August 2016 als nicht nachvollziehbar. Selbst eine Leistungsfähigkeit des Mathematikers für einfachere Verwaltungstätigkeiten könne ohne eine neuropsychologische Diagnostik nicht sicher festgestellt werden. Auch die vertrauensärztliche gutachterliche Stellungnahme vom Oktober 2017, der eine vertrauensärztliche Untersuchung am 18. Mai 2017 und eine nachfolgende psychiatrische Zusatzbegutachtung sowie eine neuropsychologische Untersuchung zugrunde liegen, sei geeignet, gewichtige Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Mathematikers für eine den Tätigkeitsmerkmalen seiner Entgeltgruppe genügende Arbeit zu wecken.

Es gehe vorliegend nicht darum, für den freigestellten Mathematiker einen Arbeitsplatz zu finden, sondern darum, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Mathematiker aus gesundheitlichen Gründen generell nicht in der Lage sei, eine Arbeitsleistung zu erbringen die den Anforderungen seiner Entgeltgruppe entsprechen.

Das beklagte Land habe ausreichend Indizien vorgetragen, aus denen auf eine Leistungsunfähigkeit des Mathematikers im Annahmeverzugszeitraum geschlossen werden könne. Die Indizwirkung der behaupteten Tatsachen habe der Mathematiker wiederum in ausreichendem Maße erschüttert. Er habe die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden und sich die Einschätzung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg zu eigen gemacht, der von einer Arbeitsfähigkeit des Mathematikers ab dem 1. August 2016 ausgegangen ist.

Ein weiterer Anhaltspunkt für Leistungsfähigkeit sei die nervenfachärztliche Stellungnahme vom 7. März 2017, deren Einschätzungen sich der Mathematiker gleichfalls zu eigen gemacht habe. Danach sei nicht auszuschließen, dass er durch eine im Juli 2016 begonnene medikamentöse Kombinationstherapie jedenfalls im Streitzeitraum oder in dessen Verlauf wieder leistungsfähig war.

Das Landesarbeitsgericht werde im fortgesetzten Berufungsverfahren nachzuholen und festzustellen haben, ob die seit dem 9. Dezember 2015 durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit des Mathematikers tatsächlich -wie vom Medizinischen Dienst angenommen – Anfang August 2016 oder zumindest zu Beginn oder im Verlauf des streitgegenständlichen Annahmeverzugszeitraums – etwa aufgrund der im Juli 2016 begonnenen medikamentösen Kombinationstherapie – geendet habe und der Mathematiker gesundheitlich wieder in der Lage war, eine den Anforderungen seiner Entgeltgruppe entsprechende Arbeitsleistung zu erbringen.

Für die erforderliche Beweisaufnahme dürfte es angezeigt sein, zunächst die in die Behandlung und Begutachtung des Klägers einbezogenen Ärzte als sachverständige Zeugen nicht nur schriftlich, sondern persönlich zu vernehmen. Könne sich das Landesarbeitsgericht danach noch keine abschließende Überzeugung über die Leistungsfähigkeit des Mathematikers im Streitzeitraum bilden, läge die Einholung eines Sachverständigengutachtens nahe.