In welcher Höhe ist Nachtarbeitszuschlag angemessen?
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.05.2022, Aktenzeichen 10 AZR 230/19
Nachtarbeitszuschlag soll den Arbeitnehmer in gewissem Umfang für die durch die Nachtarbeit erlittenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen. Die Nachtarbeit wird auf diesem Weg verteuert, was zu deren Eindämmung beitragen soll.
Eine Krankenschwester ist durchgehend als Nachtwache im Nachtdienst eingesetzt. Im Zeitraum von September bis November 2016 leistete die Krankenschwester insgesamt 280 Nachtarbeitsstunden. Für diese erhielt sie zusätzlich zu ihrem Stundenlohn je Zeitstunde den vertraglich vereinbarten Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 20%.
Entsprechend der Betriebsvereinbarung „Regelung der betrieblichen Vergütungsordnung (BV Vergütungsordnung)“ sind mit Wirkung ab dem 1. März 2020, neben ggf. sonst anfallenden Zuschlägen, für Nachtarbeit während der Zeit von 21:00 Uhr bis 06:00 Uhr Zuschläge in Höhe von 20 % zu zahlen.
Die Krankenschwester hat die Auffassung vertreten, ihr stehe wegen der geleisteten Dauernachtarbeit ein Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 30 % zu. Sie sei während der von ihr geleisteten Nachtarbeit durchgehend voll beschäftigt gewesen.
Der Umstand, dass die Tätigkeit zwingend nachts ausgeführt werden müsse, könne nicht dazu führen, dass der Nachtarbeitszuschlag zu reduzieren sei. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass in ihrem Fall zumindest ihre dauerhafte Beschäftigung während der Nachtzeit vermeidbar sei.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, der Krankenschwester stehe kein höherer Nachtarbeitszuschlag zu.
Vergleichbaren Arbeitnehmern in Pflege- und Betreuungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes stehe auch nur ein Nachtarbeitszuschlag in Höhe von 20 % zu. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Tätigkeit der Krankenschwester in der Nachtzeit auch durch Zeiten minderer Beanspruchung gekennzeichnet sei.
Das Arbeitsgericht hat der Klage zum Teil stattgegeben und Nachtarbeitszuschläge in Höhe von 25 % für Arbeitseinsätze zwischen 23:00 Uhr und 06:00 Uhr zugesprochen.
Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts legten beide Parteien Berufung beim Landesarbeitsgericht ein. Das Landesarbeitsgericht wies die Klage insgesamt ab. Vor dem Bundesarbeitsgericht verfolgte die Krankenschwester ihr Begehren weiter,
Das Bundesarbeitsgericht entschied, mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Krankenschwester Nachtarbeitnehmerin im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) ist und für die zwischen 23:00 Uhr und 06:00 Uhr geleisteten Arbeitsstunden mangels tarifvertraglicher Ausgleichsregelung einen Anspruch auf einen angemessenen Ausgleich nach § 6 Absatz 5 ArbZG hat.
Entsprechend ihrem Arbeitsvertrag erhält die Krankenschwester für jede Stunde Nachtarbeit einen Zuschlag in Höhe von 20 % des Bruttostundenlohns oder eine entsprechende Zahl bezahlter freier Tage, wobei beim Zusammentreffen mit höheren anderen Zuschlägen nur diese gezahlt werden.
Eine vertragliche Vereinbarung, die zum Nachteil des Arbeitnehmers hinter den gesetzlichen Vorgaben für einen angemessenen Ausgleich zurückbleibt, ist allerdings nach § 6 Absatz 5 ArbZG in Verbindung mit § 134 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) unwirksam.
Entsprechendes gilt für die Zeit ab dem 1. März 2020 hinsichtlich der Regelungen in der BV Vergütungsordnung.
- 6 Absatz 5 ArbZG sieht einen Vorrang tariflicher Bestimmungen vor, enthält aber keine Öffnungsklausel für die Betriebsparteien. Eine betriebliche Regelung, die zum Nachteil der Arbeitnehmer hinter den gesetzlichen Vorgaben für einen angemessenen Ausgleich zurückbleibt, ist nach § 6 Absatz 5 ArbZG in Verbindung mit § 134 BGB unwirksam.
Nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen ist Nachtarbeit grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen. Es ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in je größerem Umfang sie geleistet wird. Dauernachtarbeit ist damit die Arbeitsform mit den höchsten Belastungen für die Arbeitnehmer.
Die Regelungen in § 6 ArbZG sollen in erster Linie dem Schutz des Arbeitnehmers vor den schädlichen Folgen der Nacht- und Schichtarbeit dienen.
Für Nachtarbeitnehmer soll ein angemessener Ausgleich für die mit der Nachtarbeit verbundenen Beeinträchtigungen gewährt werden, ohne dass der Gesetzgeber Vorgaben zum Umfang des Ausgleichs macht.
Soweit § 6 Absatz 5 ArbZG einen Anspruch auf bezahlten Freizeitausgleich begründet, der Arbeitgeber diesen zeitnah gewährt und die Arbeitszeit insgesamt verkürzt wird, wirkt der Ausgleich unmittelbar gesundheitsschützend. Soweit ein Nachtarbeitszuschlag vorgesehen ist und vom Arbeitgeber gewährt wird, soll er den Arbeitnehmer in gewissem Umfang für die durch die Nachtarbeit erlittenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen. Die Nachtarbeit wird auf diesem Weg verteuert, was zu deren Eindämmung beitragen soll.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt ein Zuschlag in Höhe von 25 % auf das jeweilige Bruttostundenentgelt bzw. die Gewährung einer entsprechenden Zahl von bezahlten freien Tagen regelmäßig einen angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit dar.
Eine Erhöhung oder Verminderung des Regelwerts kommt in Betracht, wenn die Umstände, unter denen die Arbeitsleistung zu erbringen ist, den regelmäßig angemessenen Wert von 25 % wegen der im Vergleich zum Üblichen höheren oder niedrigeren Belastung als zu gering oder zu hoch erscheinen lassen.
Der Zuschlag auf das Bruttostundenentgelt oder die Zahl bezahlter freier Tage kann sich erhöhen, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen (Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Gesichtspunkten die gewöhnlich mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt. Das ist regelmäßig der Fall, wenn eine Arbeitnehmerin nach ihrem Arbeitsvertrag oder nach Ausübung des Direktionsrechts durch die Arbeitgeberin dauerhaft in Nachtarbeit tätig wird („Dauernachtarbeit“).
Bei einer Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit erhöht sich der Anspruch in der Regel auf 30 %.
Nach der Art der Arbeitsleistung ist auch zu beurteilen, ob der vom Gesetzgeber mit dem Entgeltzuschlag verfolgte Zweck, im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers Nachtarbeit zu verteuern und auf diesem Weg einzuschränken, zum Tragen kommen oder nur die mit der Nachtarbeit verbundene Erschwernis ausgeglichen werden kann.
Das Landesarbeitsgericht ist im Ansatz von dem zutreffenden Begriff der Angemessenheit im Sinne von § 6 Absatz 5 ArbZG ausgegangen und hat zu Recht angenommen, dass die von der Krankenschwester geleistete Dauernachtarbeit grundsätzlich Anlass dafür bietet, den Regelzuschlag auf 30 % des Bruttostundenlohns zu erhöhen.
Unberücksichtigt ist bei der Prüfung der Angemessenheit aber geblieben, dass die Durchführung der Nachtarbeit als Dauernachtarbeit im konkreten Fall vermeidbar ist. Damit hat das Landesarbeitsgericht einen wesentlichen Umstand unberücksichtigt gelassen. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung der Entscheidung.
Hinsichtlich der Tätigkeit der Krankenschwester ist die individuelle Dauernachtarbeit grundsätzlich vermeidbar. Die Arbeitgeberin könnte durch entsprechend gestaltete Arbeitszeitmodelle – etwa durch die Einführung eines Wechselschichtmodells – die Durchführung von Dauernachtarbeit verhindern und so die Belastungen durch die Nachtarbeit individuell für die Krankenschwester verringern.
Diejenigen Arbeitnehmer, die unter solchen Umständen Nachtarbeit leisten, sollen zumindest einen angemessenen finanziellen Ausgleich für die damit verbundenen Beeinträchtigungen erhalten und in einem gewissen Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigt werden, insbesondere dann, wenn die besonders schädliche Form der Dauernachtarbeit durch andere Arbeitszeitmodelle grundsätzlich vermeidbar ist.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts wurde aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.