Wann erlischt Anspruch auf bezahlten Mindesturlaub nicht?
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 22.09.2022, Aktenzeichen C-518/20 und C-727/20
Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt nicht, falls der Arbeitnehmer wegen voller Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit wegen Erkrankung im Bezugszeitraum nicht in der Lage war seinen Jahresurlaub zu nehmen, und der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen.
Es obliegt dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.
Im vorliegenden Verfahren wurden zwei Rechtsstreitigkeiten gemeinsam beurteilt, da sie beide auf dem Anspruch der Arbeitnehmer auf bezahlten Jahresurlaub im Urlaubsjahr beruhen, in dem sie jeweils vollständig erwerbsunfähig bzw. arbeitsunfähig wurden.
Das Bundesarbeitsgericht fragte sich im ersten Fall, ob die in § 7 BUrlG (Bundesurlaubsgesetz) vorgesehene Regel, wonach ein Urlaub, der im Fall einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht genommen wurde, verfällt, obwohl der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch in dem Arbeitszeitraum vor seiner vollen Erwerbsminderung tatsächlich auszuüben, mit Artikel 7 der Europäischen Richtlinie 2003/88 vereinbar ist.
Das Bundesarbeitsgericht legte dem Europäischen Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:
Stehen Artikel 7 der Europäischen Richtlinie 2003/88 und Artikel 31 Absatz 2 der Europäischen Charta der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Absatz 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaub aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
Sofern die Frage bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender voller Erwerbsminderung auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?
Im zweiten Fall wurde eine Arbeitnehmerin im Jahr 2017 arbeitsunfähig. Ihr Arbeitgeber hatte sie weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder des Übertragungszeitraums gemäß Artikel 7 Absatz 3 BUrlG verfallen kann.
Sie machte geltend, ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei wegen ihrer fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht am 31. März 2019 erloschen, da ihr Arbeitgeber es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall der Urlaubstage hinzuweisen.
In beiden Fällen hatten die Arbeitgeber die Ansprüche, mit Hinweis auf deren Verjährung, abgewiesen. Die Vorinstanzen wiesen die Klage jeweils ab.
Zum zweiten Fall stellte das Bundesarbeitsgericht folgende Frage zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof:
Stehen Artikel 7 der Richtlinie 2003/88 und Artikel 31 Absatz 2 der Europäischen Charta der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Absatz 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr – zumindest teilweise – noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?
Sofern die Frage bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?
Der Europäische Gerichtshof führte zunächst aus, dass, wie sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt, jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden.
Im Übrigen ist zu beachten, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Artikel 31 Absatz 2 der Europäischen Charta, die nach Artikel 6 Absatz 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat, ausdrücklich verankert ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wird mit dem Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen.
Das Ziel, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen, setzt voraus, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu berechnen.
Allerdings kann ein Mitgliedstaat in bestimmten Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat. Dies ist insbesondere bei Arbeitnehmern der Fall, die der Arbeit fernbleiben, weil sie während des Bezugszeitraums krankgeschrieben sind.
Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, werden diese Arbeitnehmer hinsichtlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub solchen gleichgestellt, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben.
Das Eintreten einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich nicht vorhersehbar und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig. Fehlzeiten infolge einer Krankheit sind den Arbeitsversäumnissen aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, zugeordnet, die als Dienstzeit anzurechnen sind.
Es ist ausgeschlossen, dass sich der unionsrechtlich gewährleistete Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Mindestjahresurlaub verringert, wenn er seiner Arbeitspflicht wegen einer Erkrankung im Bezugszeitraum nicht nachkommen konnte.
Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitgeber sich auf die Anwendung der zeitlichen Begrenzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer während des Bezugszeitraums erworben hat, in dem er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, berufen können.
Es obliegt dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben.
Die Mitgliedstaaten können nicht von dem Recht, das in Artikel 7 der Europäischen Richtlinie 2003/88 und in Artikel 31 Absatz 2 der Charta verankert ist, abweichen, wonach ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der Arbeitgeber seinen Obliegenheiten rechtzeitig nachgekommen ist, zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufzufordern und darauf hinzuweisen.
Des Weiteren ist festzustellen, dass sich die betroffenen Arbeitnehmer in den Ausgangsverfahren darauf beschränken, die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, die sie für den Bezugszeitraum erworben haben, in dem sie zum Teil erwerbstätig und zum Teil voll erwerbsgemindert oder krankheitsbedingt arbeitsunfähig waren.
Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren besteht nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub.
Eine zeitliche Beschränkung kann nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub angewandt werden, der im Lauf eines Bezugszeitraums erworben wurde, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig wurde, ohne dass geprüft wurde, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch geltend zu machen.
Artikel 7 der Richtlinie 2003/88 und Artikel 31 Absatz 2 der Charta sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, entweder nach Ablauf eines nach nationalem Recht zulässigen Übertragungszeitraums oder später auch dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben.