Urlaub und Urlaubsgeld für Leiharbeitnehmer
Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 12.05.2022, Aktenzeichen C-426/20
Wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer müssen während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie vom entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Dazu gehören auch Urlaub und Urlaubsgeld.
Zwei portugiesische Arbeitnehmer waren mittels Leiharbeitsvertrag für 2 Jahre einem entleihenden portugiesischen Unternehmen überlassen worden.
Nach der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses im Oktober 2019 erhoben die beiden Arbeitnehmer Klage beim Arbeitsgericht. Sie beanspruchten von der überlassenden Arbeitgeberin einen Zahlungsausgleich für nicht erhaltenen Urlaub sowie Urlaubsgeld, nach den allgemeinen Regelungen des portugiesischen Arbeitsgesetzbuches. Danach hätten sie Anspruch auf die Abgeltung von 65 bzw. 67 Urlaubstagen und auf das entsprechende Urlaubsgeld.
Die Arbeitgeberin ging hingegen davon aus, dass die für Leiharbeitnehmer geltende Regelung des Arbeitsgesetzbuchs bezüglich bezahlten Urlaubs für Leiharbeitsverträge maßgeblich sei. Danach hätten Leiharbeitnehmer lediglich anteilig nach der Dauer ihrer Beschäftigung Anspruch auf bezahlten Urlaub und das entsprechende Urlaubsgeld. Die Arbeitnehmer hätten demnach Anspruch auf 44 Tage bezahlten Urlaub.
Das vorlegende portugiesische Gericht weist darauf hin, dass es sich bei Artikel 185 des Arbeitsgesetzbuchs um eine Sonderregelung für Leiharbeitsverträge handele. Sie gehe der allgemeinen Regelung des Arbeitsgesetzbuchs, die für die Mehrzahl der Arbeitsverträge gelte, vor. Nach der Gesetzessystematik sei nämlich, weil die Sonderregelung in demselben Gesetzbuch enthalten sei, eindeutig, dass der Gesetzgeber die Anwendung der allgemeinen Regelung über den Urlaub für Leiharbeitnehmer habe ausschließen wollen.
Dadurch erführen die Leiharbeitnehmer eine Ungleichbehandlung, da sich der Anspruch der Leiharbeitnehmer auf bezahlten Urlaub und das entsprechende Urlaubsgeld stets anteilig nach der Dauer ihrer Beschäftigung richte, während die Arbeitnehmer, die von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden seien, unter sonst gleichen Bedingungen in den Genuss der günstigeren allgemeinen Regelung des Arbeitsgesetzbuches kommen könnten.
Im vorliegenden Fall hätten die Leiharbeitnehmer des Ausgangsverfahrens daher Anspruch auf weniger bezahlten Urlaub und Urlaubsgeld als wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für denselben Zeitraum und den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
Das vorlegende portugiesische Gericht möchte mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob Artikel 5 Absatz 1 Unterabsatz 1 der europäischen Richtlinie 2008/104 in Verbindung mit deren Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe f dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld, auf die Leiharbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit einem entleihenden Unternehmen Anspruch haben, geringer ist als die Abgeltung, auf die sie in einer solchen Situation aus demselben Grund Anspruch hätten, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz und für die gleiche Beschäftigungsdauer eingestellt worden wären.
Der EuGH führte aus, dass in der Begriffsbestimmung der europäischen Richtlinie 2008/104 ausdrücklich auf den Urlaub Bezug genommen wird. Aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104 ergibt sich, dass diese die uneingeschränkte Einhaltung von Artikel 31 der Charta der Grundrechte gewährleisten soll, der u. a. bestimmt, dass jeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat. Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub gehört zu den „wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ im Sinne der Richtlinie 2008/104.
Zur Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die finanzielle Vergütung, auf die ein Arbeitnehmer Anspruch hat, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, in der Weise zu berechnen ist, dass der Arbeitnehmer so gestellt wird, als hätte er diesen Anspruch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses ausgeübt.
Nach Artikel 5 der Richtlinie 2008/104, der den Grundsatz der Gleichbehandlung verbürgt, entsprechen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
Nach Paragraf 4 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit bzw. der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge, die den Grundsatz der Nichtdiskriminierung vorsehen, dürfen befristet beschäftigte Arbeitnehmer und Teilzeitbeschäftigte gegenüber vergleichbaren Dauer-bzw. Vollzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden.
Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der Arbeitnehmer, wenn das Arbeitsverhältnis beendet wurde und es deshalb nicht mehr möglich ist, bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zu nehmen, nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat, um zu verhindern, dass ihm wegen dieser fehlenden Möglichkeit jeder Genuss des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, selbst in finanzieller Form, vorenthalten wird.
Die Richtlinie 2008/104 soll die uneingeschränkte Einhaltung von Artikel 31 der Charta der Grundrechte gewährleisten, der in seinem Absatz 1 allgemein das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen verbürgt.
Für die Arbeitsbedingungen, die rechtliche Stellung sowie den Status der Leiharbeitnehmer innerhalb der europäischen Union bestehen große Unterschiede. Die Richtlinie 2008/104 soll deshalb einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz dieser Arbeitnehmer festlegen und gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen wahren.
Daher ist es Ziel dieser Richtlinie, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeberin anerkannt werden.
Nach ihrem elften Erwägungsgrund entspricht die Richtlinie 2008/104 nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, und trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei. Sie bemüht sich daher um einen Ausgleich zwischen dem Ziel der von den Unternehmen angestrebten Flexibilität und dem Ziel der Sicherheit, das dem Schutz der Arbeitnehmer zuzuordnen ist.
Dieses zweifache Ziel entspricht somit dem Willen des Unionsgesetzgebers, die Leiharbeitsbedingungen den „normalen“ Arbeitsverhältnissen anzunähern. Die Richtlinie 2008/104 zielt daher auch darauf ab, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu unbefristeter Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern.
Somit ist festzustellen, dass der Begriff „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ im Sinne der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass er eine Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wegen der Beendigung des Leiharbeitsverhältnisses zu zahlen hat, umfasst.
Im Sinne des Grundsatzes der Gleichbehandlung ist festzustellen, dass für Leiharbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen zumindest die gleichen wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten müssen wie diejenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem betreffenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
Nach alledem ist festzustellen, dass Artikel 5 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2008/104 in Verbindung mit deren Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe f dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld, auf die Leiharbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit einem entleihenden Unternehmen Anspruch haben, geringer ist als die Abgeltung, auf die sie in einer solchen Situation aus demselben Grund Anspruch hätten, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz und für die gleiche Beschäftigungsdauer eingestellt worden wären.