Betriebsvereinbarung ohne Beschluss des Betriebsrats unwirksam
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.02.2022, Aktenzeichen 1 AZR 233/21
Eine Betriebsvereinbarung ist unwirksam, wenn sie vom Betriebsratsvorsitzenden ohne Beschluss des Betriebsrats unterschrieben ist.
Ein Industriemechaniker ist seit April 1997 bei der Arbeitgeberin bzw. ihren Vorgängerinnen beschäftigt.
Der Lohnrahmentarifvertrag (LRTV) sieht in seinen Fassungen von 1966 und 1978 vor, dass die Einstufung der Arbeiter “nach dem Lohngruppensystem oder nach der analytischen Arbeitsbewertung“ erfolgt. Die Einführung der tariflichen analytischen Arbeitsbewertung hat durch Betriebsvereinbarung zu erfolgen.
In der Betriebsvereinbarung von 1967 wurde geregelt, dass die Einstufung nach der analytischen Arbeitsbewertung vorzunehmen ist. Die vorhandenen Arbeitsplätze wurden nach dieser Methode bewertet und in einem betrieblichen Lohngruppenkatalog zusammengefasst. Der jeweilige Arbeitswert bildete gleichzeitig die Lohngruppe der jeweils gültigen Lohntabelle.
Die im Juni 2017 unterzeichnete Betriebsvereinbarung “Grundsätze” sieht vor, dass die im Werk vorhandenen Arbeitsplätze nun nach der summarischen Bewertung in die Lohngruppen des Lohnrahmentarifvertrags 1978 eingeordnet werden. In § 9 Satz 1 dieser Betriebsvereinbarung ist festgelegt, dass mit ihrer Unterzeichnung alle anderen Betriebsvereinbarungen, die Regelungen zur Entlohnung beinhalten, ihre Gültigkeit verlieren.
Die Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin zahlte dem Industriemechaniker ab Januar 2018 eine Vergütung auf der Grundlage der Lohngruppe 6 Lohnrahmentarifvertrag. Der Industriemechaniker hat u.a. gemeint, er sei weiterhin nach der analytischen Arbeitsbewertung einzustufen. Die Betriebsvereinbarung “Grundsätze” habe die Betriebsvereinbarung 1967 nicht abgelöst, weil sie mangels eines wirksamen Betriebsratsbeschlusses unwirksam sei.
Vor dem Arbeitsgericht hat der Industriemechaniker beantragt festzustellen, dass die Arbeitgeberin verpflichtet ist, ihm über den Januar 2018 hinaus ein Grundentgelt zu zahlen, das sich nach der analytischen Arbeitsbewertung entsprechend der betrieblichen Basislohntabelle gemäß der Betriebsvereinbarung vom Mai 1967 richtet.
Die Arbeitgeberin hat hingegen die Ansicht vertreten, die Betriebsvereinbarung “Grundsätze” sei wirksam. Der Betriebsrat habe deren Abschluss mit der Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder beschlossen. Jedenfalls sei von einer Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden auszugehen.
Das Arbeitsgericht hat das Feststellungsbegehren des Industriemechanikers mit Teilurteil abgewiesen. Seine Berufung vor dem Landesarbeitsgericht blieb erfolglos.
Vor dem Bundesarbeitsgericht verfolgte der Industriemechaniker den Gegenstand des abgewiesenen Teilurteils weiter.
Das Bundesarbeitsgericht entschied, das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, das Arbeitsgericht habe ein Teilurteil über den geltend gemachten Streitgegenstand erlassen dürfen. Die gesetzlichen Voraussetzungen waren nicht erfüllt.
Trotz der Bezugnahme im Klageantrag auf die von der Rechtsvorgängerin der Arbeitgeberin regelmäßig erstellte „betriebliche Basislohntabelle“ erstreckt sich die begehrte Feststellung nicht auf eine Pflicht zur Zahlung eines Monatsgrundlohns für einen bestimmten – in der genannten Tabelle als „Lohngruppe“ bezeichneten – Arbeitswert. Der Arbeitswert für die Summe der vom Industriemechaniker ausgeübten Arbeiten, die nach § 2 Nr. 1 des Anhangs zum Lohnrahmentarifvertrag 1978 den Gegenstand der vorzunehmenden Bewertung bilden, steht zwischen den Parteien nicht im Streit.
Ausgehend hiervon bestand bei einer isolierten Entscheidung über den Klageantrag zu 1. Buchstabe a die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. Für den Erlass des Teilurteils kam es auf Begründungselemente an, die auch bei einer Entscheidung über die weiteren vom Industriemechaniker angebrachten prozessualen Ansprüche maßgebend sein können.
Das mit dem Antrag verfolgte Begehren setzt voraus, dass die Betriebsvereinbarung 1967 nicht durch die Betriebsvereinbarung Grundsätze abgelöst wurde. Entsprechend Lohnrahmentarifvertrag 1978 hat eine Einstufung nach der tariflichen analytischen Arbeitsbewertung zu erfolgen, wenn diese durch eine Betriebsvereinbarung eingeführt wurde.
Die Fortgeltung der Betriebsvereinbarung 1967 hängt wiederum davon ab, ob die Betriebsvereinbarung “Grundsätze” und damit ihre Bestimmung zur Aufhebung aller früheren Betriebsvereinbarungen über das Entgelt in § 9 Satz 1 wirksam ist.
Darüber hinaus ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts auch deswegen aufzuheben, weil es zu Unrecht davon ausgegangen ist, die vom Betriebsratsvorsitzenden unterzeichnete Betriebsvereinbarung “Grundsätze”, für deren Abschluss der Betriebsrat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Beschluss gefasst hat, sei nach den Rechtsgrundsätzen über eine Anscheinsvollmacht rechtswirksam zustande gekommen.
Anders als vom Landesarbeitsgericht angenommen, kann eine vom Betriebsratsvorsitzenden unterschriebene Betriebsvereinbarung nicht wirksam zwischen Arbeitgeberin und Betriebsrat zustande kommen, wenn es an einem, zumindest nachträglich genehmigenden, Beschluss des Betriebsrats für deren Abschluss fehlt.
Nach der Konzeption des Betriebsverfassungsgesetzes handelt der Betriebsrat als Kollegialorgan. Er bildet seinen gemeinsamen Willen durch Beschluss (§ 33 Betriebsverfassungsgesetz). Eine nicht von einem solchen Betriebsratsbeschluss umfasste Erklärung seines Vorsitzenden ist schwebend unwirksam und kann daher keine Rechtswirkungen entfalten.
Dem Betriebsrat kann eine ohne einen entsprechenden Beschluss vom Vorsitzenden abgegebene Erklärung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung nicht auf der Grundlage einer Anscheinsvollmacht zugerechnet werden.
Eine Anscheinsvollmacht setzt voraus, dass der Vertretene das Handeln des Scheinvertreters nicht kennt, es aber bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und verhindern können und die andere Vertragspartei darauf vertraut hat oder vertrauen durfte, der Vertretene kenne und billige das Handeln des Vertreters.
Diese Grundsätze können auf das Verhältnis zwischen Betriebsrat und seinem Vorsitzenden nicht unmittelbar Anwendung finden.
Im Gegensatz zu einem rechtsgeschäftlichen oder gesetzlichen Vertreter erfolgt durch den Betriebsratsvorsitzenden keine Vertretung im Willen, sondern lediglich in der Erklärung. Damit steht dem Betriebsratsvorsitzenden bereits von Gesetzes wegen nicht die Befugnis zur eigenen rechtsgeschäftlichen Willensbildung anstelle des Betriebsrats zu.
Es ist eine auf das Gremium des Betriebsrats bezogene Willensbildung erforderlich, die, weil es sich um ein Kollegialorgan handelt, nur durch Beschlussfassung möglich ist.
Der Vorsitzende des Betriebsrats gibt daher lediglich Erklärungen für diesen ab und trifft nicht an dessen Stelle auf eigenem Willensentschluss beruhende Entscheidungen.
Diese gesetzlich vorgesehene Verknüpfung der Willensbildung im Gremium mit der, lediglich diesen Willen äußernden, Erklärung steht einer unmittelbaren Anwendung der Grundsätze über die Anscheinsvollmacht entgegen.
Hat der Vorsitzende des Betriebsrats eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet, die nicht auf einem zuvor vom Gremium gefassten wirksamen Beschluss beruht, kann dieser Mangel geheilt werden. Die von ihm abgegebene Erklärung ist entsprechend § 177 Absatz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) zunächst nur schwebend unwirksam und kann vom Betriebsrat nachträglich genehmigt werden.
Obwohl der Vorsitzende den Betriebsrat nur in der Erklärung, nicht aber im Willen vertritt, ist eine entsprechende Heranziehung dieser Norm geboten, um den Betriebsparteien die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler bei der Beschlussfassung des Betriebsrats im Nachhinein zu beheben.
Da die Genehmigung seitens des Betriebsrats durch einen Beschluss zu erfolgen hat, ist die für eine Rechtsetzung der Betriebsparteien erforderliche Form seiner Willensbildung gewahrt. Die vom Betriebsrat beschlossene Genehmigung wirkt auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung zurück.
Die Rückbeziehung der Genehmigungswirkung hat zur Folge, dass die vom Betriebsratsvorsitzenden ohne vorherigen Beschluss des Gremiums unterschriebene Betriebsvereinbarung so zu behandeln ist, als sei sie bereits bei ihrem Abschluss wirksam geworden.
Nach dem Rechtsgedanken des § 177 Absatz 1 BGB ist die Befugnis des Betriebsrats, eine in seinem Namen durch den Vorsitzenden geschlossene Betriebsvereinbarung im Nachhinein zu genehmigen, nicht befristet. Daher kann die Genehmigung in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich unbegrenzt erteilt werden. Die Arbeitgeberin hat es allerdings in der Hand, den mit Blick auf die Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung bestehenden Schwebezustand zu beenden, indem sie entweder ihre Willenserklärung widerruft oder den Betriebsrat entsprechend § 177 Absatz 2 Satz 2 BGB erfolglos auffordert, sich zur Genehmigung zu erklären.
Bereits die Regelungen in § 29 Absatz 3 und Absatz 4 in Verbindung mit § 34 Absatz 2 Satz 1 BetrVG ermöglichen der Arbeitgeberin, im Vorfeld des Abschlusses einer Betriebsvereinbarung die erforderliche Beschlussfassung des Betriebsrats zu veranlassen und sich diese durch Aushändigung einer Abschrift der Sitzungsniederschrift nachweisen zu lassen.
Aus der auszuhändigenden Abschrift der Sitzungsniederschrift müssen sich sowohl der Inhalt eines vom Betriebsrat gefassten Beschlusses als auch das Stimmverhältnis ablesen lassen. Abschriftlich an die Arbeitgeberin auszuhändigen ist ferner der Teil der Sitzungsniederschrift, aus dem sich ergibt, dass sie von dem Vorsitzenden und einem weiteren Betriebsratsmitglied unterschrieben wurde. Gleiches gilt für die Anwesenheitsliste, die der Sitzungsniederschrift beizufügen ist und die damit einen ihrer Bestandteile darstellt.
Der Betriebsrat ist im Fall des Abschlusses einer Betriebsvereinbarung verpflichtet, der Arbeitgeberin auf deren zeitnah geltend zu machendes Verlangen eine Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen, aus dem sich die Beschlussfassung des Betriebsrats ergibt, die für die Wirksamkeit der vom Betriebsratsvorsitzenden abgegebenen Erklärung erforderlich ist.
Gerade weil sich die Wirkung einer Betriebsvereinbarung nicht darauf beschränkt, das zwischen den Betriebsparteien bestehende Rechtsverhältnis zu gestalten, sondern mit ihr nach § 77 Absatz 4 Satz 1 BetrVG auch betriebliches Recht gesetzt wird, hat die Arbeitgeberin als zur Umsetzung verpflichtete Betriebspartei ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse zu wissen, ob eine vom Betriebsratsvorsitzenden abgegebene Erklärung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung auf einem vom Gremium getroffenen Beschluss beruht.
Diese in den gesetzlichen Vorgaben angelegte Situation erfordert es, dass der Betriebsrat gehalten ist, der Arbeitgeberin auf ein zeitnah geltend zu machendes Verlangen eine Abschrift eines Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen. Aus ihr muss sich die für die Wirksamkeit der vom Vorsitzenden abgegebenen Erklärung notwendige Beschlussfassung durch den Betriebsrat ergeben.
Ein solcher Nachweis ist vom Betriebsrat nur auf Verlangen der Arbeitgeberin und zeitnah nach Unterzeichnung einer Betriebsvereinbarung durch dessen Vorsitzenden zu erbringen. Der Betriebsratsvorsitzende muss seine Autorisierung zum Abschluss der Betriebsvereinbarung nicht von sich aus nachweisen.
Das berechtigte Interesse der Arbeitgeberin, Kenntnis von einer entsprechenden Beschlussfassung zu erhalten, ist bereits dann ausreichend geschützt, wenn sie es selbst in der Hand hat zu entscheiden, ob sie einen Nachweis beim Betriebsrat anfordert. Zudem muss die Geltendmachung durch die Arbeitgeberin zeitnah nach Abschluss der Betriebsvereinbarung erfolgen. Dies stellt sicher, dass ein wesentlicher Zweck der dem Betriebsrat obliegenden Nebenpflicht – für die Arbeitgeberin insoweit Klarheit darüber zu schaffen, ob ihn eine Durchführungspflicht nach § 77 Absatz 1 Satz 1 BetrVG trifft – erreicht werden kann.
Auf ein solches Verlangen der Arbeitgeberin hat der Betriebsrat ihr eine Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift zu überlassen, aus dem sich die Beschlussfassung für den Abschluss der Betriebsvereinbarung ergibt.
Unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen ist der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen.
Die Unzulässigkeit eines Teilurteils führt grundsätzlich zur Zurückverweisung der Sache nach § 563 Absatz 1 ZPO (Zivilprozessordnung). Eine abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts ist in der Regel nicht möglich, weil es den noch nicht beschiedenen Teil des Rechtsstreits nicht an sich ziehen und anstelle der Instanzgerichte darüber entscheiden kann.
Das Bundesarbeitsgericht darf den Rechtsstreit an das Arbeitsgericht zurückverweisen, weil schon das Landesarbeitsgericht ihn dorthin hätte zurückverweisen können. Im Arbeitsgerichtsprozess ist eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht wegen eines Mangels im Verfahren zwar nach § 68 ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) grundsätzlich unzulässig. Eine solche kommt jedoch ausnahmsweise in Betracht, wenn, wie im Streitfall, das Arbeitsgericht ein unzulässiges Teilurteil erlassen hat.